3. Sonntag im Jahreskreis C: "Das Heilige Jahr - ein Gnadenjahr des Herrn"
Predigt 3. Sonntag im Jahreskreis C
„Ein Gnadenjahr des Herrn - ein Heiliges Jahr“
Liebe Schwestern und Brüder
Die Stadt Rom erwartet 2025 rund 45 Millionen Besucherinnen und Besucher. Jeder, der in den letzten 25 Jahren die Heilige Stadt besucht hat, erinnert sich bei der Zahl mit Grauen an die langen Schlangen vor dem Petersdom, die sich oft über den ganzen Petersplatz zogen und mitunter bei Hitze oder Regen stundenlanges Aushalten verlangten. Ich habe einen Tipp für Sie, wie sie schnell in die wichtigste Kirche der Christenheit kommen. Schon seit 2023 gibt es einen eigenen Zugang für Beter und Pilger, aber seit Weihnachten kann man geschickt alle Warteschlangen überspringen, wenn man sich vorher als Pilger der Hoffnung beim Vatikan registriert. Danach erhält man einen Pilgerpass und einen QR-Code, reiht sich auf der Piazza Pia in eine Gruppe von Wallfahrern ein, wird bevorzugt bei den Kontrollen und kann sogar durch die geöffnete Heilige Pforte schreiten. Wenn man geschickt ist, stehen einem in Rom jetzt alle Türen offen. Diese Erfahrung der offenen Türen verbinden wir mit dem ordentlichen Heiligen Jahr, das Papst Franziskus am Heiligen Abend eröffnet hat. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Bild des siechenden und schwachen Johannes Paul II., der sich am Heiligen Abend 1999 über die Schwelle der Heiligen Pforte schleppte und dann voll Energie und Kraft das Heilige Jahr 2000 feierte.
Alle 25 Jahre feiert die Katholische Kirche ein sog. ordentliches Heiliges Jahr. Mitunter wird auch noch ein außerordentliches Heiliges Jahr zu besonderen Anlässen ausgerufen, so z.B. im Jahr 2015/2016 50 Jahre nach dem Abschluss des II. Vatikanischen Konzils. Wahrscheinlich wird auch 2033, also 2000 Jahre nach dem Kreuzestod Jesu, vom dann amtierenden Papst ein Heiliges Jahr angesetzt. Das erste Heilige Jahr wurde 1300 von Papst Bonifatius VIII. (1294-1303) ausgerufen. Ursprünglich als Jahrhundertereignis gedacht, wurde es zunächst im Abstand von 50 und dann 33 Jahren wiederholt. Der Rhythmus von 25 Jahren besteht seit 1470. Im Jubeljahr 2000 kamen rund 25 Millionen Pilger und Besucher nach Rom.
Kritiker unterstellten schon immer, dass es sich dabei um eine reine Werbemaßnahme handelt. Tatsächlich hatte Papst Bonifatius VIII. gute Gründe für seine Entscheidung: Nach den gescheiterten Kreuzzügen waren die Orte des Lebens Jesu im Heiligen Land endgültig in muslimischer Hand, eine Feier des Jubiläums der Menschwerdung Gottes war somit in Jerusalem oder Bethlehem nicht möglich. Seit 1208 war auch die Trennung der östlichen und westlichen Christenheit als schmerzhafte Wunde schon fester Teil der Kirchengeschichte, so dass eine Konzentration der Feier auf Rom eine deutliche Aufwertung für die Stadt der Päpste als neue Heilige Stadt der Christenheit bedeutete. So verwundert es nicht, dass die Romwallfahrt, die Heilige Pforte und der Ablass, der vom Papst gewährt wird, zu zentralen Elementen der Heiligen Jahre wurden.
Ihren Ursprung aber hat diese Tradition in den Zeiten des Alten Testaments. Im Buch Levitikus heißt im 25. Kapitel: „Dieses fünfzigste Jahr gelte euch als Jubeljahr. Ihr sollt nicht säen, den Nachwuchs nicht abernten, die unbeschnittenen Weinstöcke nicht lesen. Denn es ist ein Jubeljahr, es soll euch als heilig gelten. Vom Feld weg sollt ihr den Ertrag essen. In diesem Jubeljahr soll jeder von euch zu seinem Besitz zurückkehren.“ (Lev 25,10f). Der jüdischen Wochentradition von 7 Tagen folgend wurde jedes siebte Jahr als „Sabbatjahr“ begangen, in dem Felder brach lagen und die Natur sich erholen sollte. Weiter rechneten die Israeliten 7x7 Jahre, also 49 Jahre, und sollten dann das nächste Jahr als Jubeljahr mit dem Ideal der Befreiung in Erinnerung an die Knechtschaft in Ägypten halten. Das Buch Levitikus verpflichtete die Volksgemeinschaft, nach 49 Jahren versklavte Personen freizulassen bzw. versklavte Juden freizukaufen und Land, das aus Schuldgründen verkauft werden musste, zurückzugeben, so dass für jeden freien Israeliten ein Neuanfang möglich wird. Dieses „Gnadenjahr“ war in der Geschichte immer mehr Anspruch als Wirklichkeit. Im Grunde wollte das Jobeljahr herausstellen, dass das Leben und die Erde keinem Menschen, sondern allein Gott gehören. So wurde das Jubeljahr auch zu einem Hoffnungsbild gerade in den Zeiten, in denen das Volk Israel durch schwere Bedrängnis, Abhängigkeiten von fremden Mächten und sozialen Krisen gehen musste. Der Prophet Jesaja greift die Hoffnung auf und verkündet dem Volk, das im Exil leidet, das Kommen des Gesalbten Gottes, der eine eindeutigen Sendung mit sich trägt: „Der Geist GOTTES, des Herrn, ruht auf mir./ Denn der HERR hat mich gesalbt; er hat mich gesandt, um den Armen frohe Botschaft zu bringen, / um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung auszurufen / und den Gefesselten Befreiung, um ein Gnadenjahr des HERRN auszurufen, / einen Tag der Vergeltung für unseren Gott, / um alle Trauernden zu trösten, den Trauernden Zions Schmuck zu geben / anstelle von Asche, Freudenöl statt Trauer, / ein Gewand des Ruhms statt eines verzagten Geistes.“ (Jes 61,1-3)
In der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth schlägt Jesus eben diese Worte des Propheten auf, liest sie und deutet sie auf sein Kommen hin. Es fällt auf, dass in der Überlieferung des Lukas die Menschen sehr positiv reagieren. Markus und Matthäus schildern von Anfang Zweifel der Mitbürger an der Autorität Jesu. Lukas schaltet der Entfremdung zunächst einen Einblick in die Seelenlage des damaligen Judentums voraus: Gerade in Galiläa, der Heimat Jesu, das von frommen Menschen in Jerusalem als Judentum zweiter Klasse verachtet wurde, da es im Laufe der Geschichte viele heidnischen Einflüssen ausgesetzt war, war die Erwartung einer Gnadenzeit Gottes groß. Lukas setzt die Rede Jesu wie einen Paukenschlag an den Anfang seines Berichtes von der Verkündigung der Frohen Botschaft, um das Leitmotiv der Sendung des Gottessohnes herauszustellen: „Allem verletzten und erniedrigtem Leben aufhelfen, alles Verwundete heilen und denen, die sich vor Gott und den Menschen zu verachten gelernt hatten, ihre Würde wiedergeben. Ganz egal, wie klein sie dich gemacht haben, nur um sich selbst größer zu fühlen, ganz egal, wie viel Kränkungen du schlucken, wie viel Selbsthass du lernen musstest: In Gottes Augen bist du groß. Er will, dass du lebst, aufrecht und frei.“ (Anke Lechtenberg; Die Sonntagsevangelien im Lesejahr C; Regensburg 2024; 114). Der Kern seiner Botschaft ist die Ausrufung einer Gnadenzeit Gottes: eine gute Botschaft für die Armen, Entlassung derer, die gefangen sind im Kerker von Schuld und Ausgrenzung, Orientierung und neue Sichtweisen für die, die blind geworden sind für das Gute und Hoffnungsvolle, Freiheit für die Niedergeschlagenen.
Neben der innerkirchlichen Dimension von Wallfahrten, Riten und Ablass gehört diese befreiende Erfahrung der Gegenwart Gottes für alle Menschen zu den herausragenden Inhalten des Heiligen Jahres. 2015 hat Papst Franziskus deshalb ausdrücklich ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Das Heilige Jahr 2025 hat in gleicher Absicht unter das Wort „Pilger der Hoffnung“ gestellt. In seinem Schreiben zur Eröffnung des Heiligen Jahres bezieht sich der Papst auf ein Wort aus dem Römerbrief: „Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5) Er weiß gut um die Not des heutigen Menschen, die Krisen, die unsere Zeit bestimmen und die seelischen Sorgen und Nöte, die uns und unsere Zeitgenossen umtreiben. Er sieht die jungen Menschen, die in einem permanenten Krisen-modus aufwachsen und dabei die Zuversicht in die Zukunft verlieren könnten. Darum lädt er uns ein, gerade in dieser Krisenzeit bewusst zu Pilgern der Hoffnung zu werden, als zu Menschen, die nicht von Angst erstarrt die Augen vor der Welt verschließen und sich zurückziehen in ihre Privatsphäre, sondern die mit wachen Herzen durch die Welt gehen und die Zeichen der Hoffnung erkennen, die so sehr von den Schatten des Dunkels überdeckt werden. So ist diese Heilige Jahr für die Kirche, für unsere Gemeinde und für jeden von uns auch eine Chance, wieder verstärkt das genuin Christliche, nämlich das Zeugnis für die Hoffnung, in den Mittelpunkt unserer Verkündigung und unserer Nachfolge zu rücken. Die Kirche wird in der Öffentlichkeit in vielen Bereichen wahr-genommen: die Debatten um Strukturen und Hierarchien, die Moralvorstellungen, an denen sich viele heutige Menschen stoßen, ihre Liturgien und ihre Kultur. Im Sinne Jesu ist es aber die Hoffnung auf eine Gnadenzeit, ein Bemühen um das Heilen von Wunden und die Befreiung von der Lebensangst, für die Christen sich stark machen sollen.
Das gilt gerade in Erfahrungen, die uns selbst ängstigen und verunsichern. Mit Schrecken schauen wir auch als glaubende Menschen auf die furchtbare Messerattacke in Aschaffenburg am vergangenen Mittwoch. Nur 80 Kilometer entfernt von uns, in der zweiten größeren Stadt Unterfrankens, ereignete sich das Schlimmste, das wir uns vorstellen können: Ein Kleinkind und ein Mann, der helfen wollte, werden brutal und sinnlos ermordet. Vielen kommen hier die Erinnerungen an das Attentat in Würzburg 2021 wieder in den Sinn. Wir stehen ohnmächtig im Angesicht von Gewalt und Leid, das überhaupt keinen Sinn ergeben will. Es ist verständlich, dass in vielen Menschen Rache- und Hassgefühle aufsteigen und der Ruf nach Konsequenzen laut wird. Das ist nachvollziehbar und manche Verärgerung auch berechtigt. Der Staat muss seine Bürger schützen, auch wenn wir wissen, dass er das nie zu hundert Prozent leisten kann. Wir Christen aber sollten neben der politischen Diskussion noch einen weiteren Dienst an den Menschen leisten: Für Versöhnung und Hoffnung eintreten in einer dunklen Zeit. Wir sind nicht klüger als andere, aber wir bauen auf eine innere Kraft, die uns hilft, in solchen Stürmen nicht unterzugehen: „Die Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen.“
Bereits am 2. Weihnachtstag öffnete Papst Franziskus eine weitere Heilige Pforte in einem römischen Gefängnis. An einem Ort der geschlossenen Türen erinnerte er die Gefangenen daran, dass ein offenes Herz der Schlüssel zur Menschlichkeit sei: „Die wichtigste Tür ist die des Herzens. Geschlossene Herzen machen uns hart wie Stein.“ Nur der Mensch, der sein Herz nicht zum Gefängnis macht, kann noch Hoffnung haben, die im Leid aufrichtet. Dafür einzutreten und davon Zeugnis zu geben, macht Christen zu Türöffner, die in diesem Heiligen Jahr Menschen spüren lässt, dass das „Heute“, von dem Jesus im Evangelium spricht, sich wirklich unter uns ereignen kann durch die Hoffnung, die zum Leben befreit. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer
2. Sonntag im Jahreskreis C: "Wasser der Einkehr und Wein der Lebensfreude"
Predigt „Aus dem Wasser der Einkehr wird der Wein der Lebensfreude“
2. Sonntag im Jahreskreis – Die Hochzeit zu Kana
Liebe Schwestern und Brüder
Das heutige Evangelium von der Hochzeit zu Kana ist eindeutig eine Fälschung. Dieser Text kann niemals original in einem religiösen Buch gestanden haben. Davon ist zumindest der Abgeordnete Nik Muhammad Zawawi Salleh, Mitglied des malaysischen Parlaments, überzeugt. In Malaysia gilt der Islam als Staatsreligion und Zwawi Salleh gehört auch der Nationalen Islamistischen Partei an. Für ihn ist es nicht vorstellbar, dass in der Original-Bibel Alkohol positiv gesehen wird. In allen Religionen gelte, so der Politiker, ein striktes Alkoholverbot. Die Bibel sei daher an den entsprechenden Stellen wider ihren Sinn geändert, Aussagen zum Alkoholverbot seien entfernt worden. Erzbischof Simon Poh Hoon Seng von Kuching sieht in der Behauptung des Abgeordneten eine Beleidigung der Christen und eine Missachtung der Religionsfreiheit. (Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2020, Heft 36, S. 403) Von einem Außenstehenden kommen deutliche Zweifel an der positiven Sicht von Alkohol in der Bibel. Es ist auch eine erstaunliche Menge besten Weins, von der das Johannesevangelium spricht: 600 Liter Wasser werden zu Wein. Auch wenn man bedenkt, dass zu einer Hochzeit in Israel zur Zeit Jesu nicht nur Verwandte und Freunde kamen, sondern auch alle Nachbarn und Dorfbewohner, und dass eine Hochzeit sich meist über mehrere Tage erstreckt, bleibt es dennoch eine ausreichende Grundlage für eine feucht-fröhliche Feier mit erheblicher Kater-Gefahr am Ende. Zur Einordnung reicht der statistische Hinweis, dass in Deutschland durchschnittlich 20 Liter Wein pro Kopf in den vergangenen Jahren getrunken wurde. In einer Zeit, in der wir eher kritisch auf missbräuchlichen Alkoholkonsum blicken, kann man durchaus Zweifel hegen, ob das Evangelium von der wunderbaren Weinvermehrung wirklich geeignet ist für die Verkündigung der christlichen Wahrheit. Hätte Jesus nicht Traubensaft auftischen können? Warum Wein, also Alkohol, der doch schädlich ist für die Gesundheit des Menschen? Noch dazu aus Wasser, das ja in unserer Auffassung eher zuträglich für die Gesundheit ist. Ob das wirklich so war zur Zeit Jesu, müssen Medizin-Historiker einordnen. Ich denke, dass die Verbindung Wasser und Wein im Evangelium gewollt ist. Jesus hätte ja auch einfach dafür sorgen können, dass die Diener in einem Keller noch bisher unentdeckte Weinfässer finden, die er auf wundersame Wiese dort platziert hatte. Das dürfte ihm kaum schwerfallen. Aber bewusst spricht das Johannesevangelium nicht von Wunder in diesem Zusammenhang, sondern von einem Zeichen. Das Wunder ist ein Ereignis, das dadurch beeindruckt, dass die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt werden. Diese Sinnspitze findet sich aber bei Johannes nicht. Es gibt kein wunderwirkendes Wort. Wir hören nichts von magischen Vorgängen im Inneren der Krüge. Johannes bleibt uns sogar die Reaktion der Diener und des Bräutigams schuldig. Lediglich von den Jüngern hören wir, dass sie an ihn glauben. Das sog. Weinwunder der Hochzeit zu Kana ist also ein Zeichen, d.h. es will auf etwas Verborgenes hinweisen, die Wahrnehmung öffnen für einen größeren Horizont und eine tiefere Bedeutung. Im Verlauf des Johannes-evangeliums wird das Zeichen von Kana das Jesuswort im Bild vom guten Hirten vorbereiten: „ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Jesus sorgt für die Voraussetzung, dass der Mensch sich ohne Einschränkungen freuen kann. Das Wunder ist eine österliche Verheißung. Denn das wahre Leben in Fülle wird der Mensch erst dann erfahren, wenn er ins Haus des Vaters einzieht. Aber ich glaube, dass die Verbindung „Wasser“ und „Wein“ im Evangelium auch schon etwas aussagt über die Sichtweise Gottes auf unser Leben in dieser Welt. Welchen Schwerpunkt sieht Gott für das Leben des Menschen? Ist es v.a. Überleben und das Streben nach Bewährung? Oder ist es Vorgeschmack der Lebensfreude, die wir in Fülle erst in seinem Reich kosten? Beide Intentionen schließen sich nicht aus, aber vielleicht liefert uns Johannes auch einen Hinweis, ob das richtige Leben oder das gute Leben für Gott mehr zählen?
Wasser hat in der Bibel eine weit gefasste Bedeutung. Alles Leben beginnt im Wasser, so der Schöpfungsbericht. Es ist Urstoff des Lebens. Zugleich aber kann es, so die Erzählung von der Urflut, zur tödlichen Gefahr für das Leben werden. So wie das Wasser Gabe Gottes zum Leben ist, so ist es auch Mittel zum Gericht. V.a. aber wird das Wasser im Bericht über die Taufe des Johannes zum Symbol für das neue Leben, weil es Reinigung und Umkehr bedeutet. Der sündige Mensch taucht mit der ganzen Last seiner verkehrten Gedanken, Herzensregungen und Taten unter und steht rein gewaschen wieder vor Gott. Auch in der Deutung der christlichen Taufe bleibt die Polarität des Wassers erhalten. Es ist Leben und Reinigung. Wir werden auf den Tod Christi getauft, in dem der Mensch die Vergebung der Sünden erfährt. Aus der Orientierungslosigkeit des Untergetauchtseins steht er mit Christus zum neuen Leben auf. Im Symbol des Wassers spiegelt sich das Bemühen des glaubenden Menschen um ein ernsthaftes Leben mit Gott und eine Stärkung des Bewusstseins, dass wir vor Gott Verantwortung tragen. Das ist eine wichtige Haltung, die dem Glauben an den Schöpfergott entspricht.
Der Wein wird in der Bibel auch nicht unkritisch zum Symbol für Feier und Fest. Immer wieder warnen die Schriften vor dem Wein als Rauschmittel. Als solches hätte er tatsächlich keinen Platz in den heiligen Schriften von Juden und Christen. Aber auch wenn im Alten Testament der übermäßige Weingenuss und die damit verbundene Trunkenheit mit scharfen Worten getadelt werden (etwa in Spr 23,20–21.29–35), wird doch nur von amtierenden Priestern zeitweilige Enthaltsamkeit eingefordert (Lev 10,8–11). Wein hat schon im alten Israel als Trankopfer eine besondere Bedeutung für den Gottesdienst und dient den Propheten als Bild für eine heilvolle Zukunft. (Jochen Teufel; Wein und Bibel - Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2021, Heft 18, S. 17). Zugleich wird Israel mit dem Weinberg gleichgesetzt, den Gott als Winzer angelegt hat und der ihn nur zu oft enttäuscht, weil er keine Frucht bringt. V.a. aber wird für das Neue Testament die Deutung des Kelchs mit Wein im Abendmahlsaal als Blut Jesu, das ewiges Leben schenkt, der entscheidende Zugang. Im Wort vom Weinstock und den Reben wird die dauernde Verbundenheit zwischen Christus und den Jüngern als Heilserfahrung erschlossen. Es geht also niemals um ein kurzfristiges Spaßerlebnis oder gar Betäuben angesichts von Problemen im Alltag. Weingenuss ist Vorkosten des Lebens in Fülle und spürbare Erfahrung der Ewigkeit, die bereits in die Zeit greift. Der Wein steht nicht für den Rausch der Trunkenheit, sondern für den Genuss des Lebens. In einem weisheitlichen Buch des Alten Testament findet sich der kluge Rat: „Gleich wie Leben ist Wein für die Menschen, wenn du ihn maßvoll trinkst. Was ist das Leben, wenn der Wein fehlt?“ (Sir 31,27) Wer an Gott glaubt und mit ihm verbunden ist, der muss sich nicht in oberflächliche Ablenkung flüchten, sondern kann sich am Leben freuen, weil es Gottes gutes Geschenk für den Menschen ist, dass er einmal grenzenlos und ohne Schatten in Fülle genießen darf. Wein steht für die Lebensfreude, wie sie in einem neuen geistlichen Lied anklingt. „Unser Leben sei ein Fest. Jesu Geist in unserer Mitte.“
Der Mensch als Geschöpf Gottes ist auf beide Haltungen ausgerichtet: die Freude am guten Leben und das Bemühen, richtig zu leben. Gott aber hat seine Wahl getroffen: Wir sind nicht auf Erden, um in Sack und Asche zu gehen, sondern um das Leben als Fest zu feiern. Die Herrlichkeit Gottes offenbart sich nicht in der ängstlichen Perfektion seiner Geschöpfe, sondern im Maß der Freude, die sie am Leben haben.
Was zählt? „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Dieser Satz stand auf einem Blatt Papier, das man nach dem Tod Martin Luthers auf dessen Schreibtisch fand. Es waren die letzten Worte, die der Reformator zu Papier gebracht hat. Die Worte klingen sehr resignativ, ja fast als Eingeständnis, alles falsch gemacht zu haben. Aber das passt nicht zu Luther. Luther war ein kluger Mensch, der entscheidende Impulse für ein neues Verständnis von Glauben setzte und auch für uns Katholiken theologisch neue Wege eröffnete. Er liebte das Leben, die Musik, Gespräche und Geselligkeit. Er musizierte und sang, versammelte regelmäßig große Runden von Studenten und Gelehrten um seinen Tisch, genoss das torgauische Bier und war sicher dem guten Essen gegenüber nicht abgeneigt. Hat er am Ende erkannt, dass das alles falsch war: „Wir sind Bettler, das ist wahr!“ So verstehe ich den Satz nicht. Luther hat mit Freude gelebt und das Leben genossen, aber er wusste auch um die Grenzen seines irdischen Lebens. Das Schöne und Gute waren Gottes Geschenke. Wir machen uns das Leben nicht schön, wir freuen uns an den Wohltaten, die Gott gibt. So bleiben wir Bettler, die immer auch des klaren Wassers der Einsicht bedürfen, aber wir haben das Leben als Geschenk bekommen, das wir uns daran freuen können, weil es uns nicht genommen, sondern einmal erfüllt wird. Zu dieser Lebenshaltung soll die Kirche den Menschen helfen, nicht als Moralwärter ihnen das Leben schwer machen. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer
Taufe des Herrn "Will ich im Glauben erwachsen werden"
Predigt Taufe des Herrn „Will ich im Glauben erwachsen werden?“
„Ich wollte nie erwachsen sein. / Hab immer mich zur Wehr gesetzt / …/ Irgendwo tief in mir / bin ich ein Kind geblieben / Erst dann, wenn ich′s nicht mehr spüren kann / Weiß ich, es ist für mich zu spät, zu spät, zu spät“ (Peter Maffay)
Seit mehr als 40 Jahren rührt der „Rock-Methusalem“ Peter Maffay mit diesen Zeilen Menschen zu Tränen. 1983 erschien der Song erstmals auf seinem Album „Tabaluga und die Reise zur Vernunft“, dem noch viele Alben, ein Musical, Zeichentrickfilme, Kinderbücher rund um den kleinen, grünen Drachen Tabaluga aus dem Grünland folgten. Tabaluga ist eine feste Institution in der Kinderwelt unseres Landes geworden. Durch die verschiedenen Teile des Rockmärchens, das Maffay erzählt, wurde es so bekannt, dass zahlreiche Kindergärten in unserem Land den Namen des Drachen für die Einrichtung oder die verschiedenen Gruppen übernommen haben. Zu den bekanntesten Hits gehört sicher Nessajas Lied „Ich wollte nie erwachsen sein…“. Am Ende seiner Reise zur Vernunft trifft Tabaluga die alte Schildkröte Nessaja, die ihm verrät, dass sie im Herzen immer ein Kind geblieben ist, und so für die Zuhörer das Geheimnis eines glücklichen Lebens preisgibt. Noch heute sieht man Erwachsene weinen, wenn sie die Worte hören „Ich wollte nie erwachsen sein ... Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben.“
Wer hat uns den gefragt, ob wir erwachsen werden wollen. Andere haben es festgestellt. Eltern sagten uns: „Du bist jetzt erwachsen, kümmere dich um dein Leben.“ Der Staat hat uns mit dem 21. oder später 18. Geburtstag Rechte und Pflichten gegeben, weil wir jetzt volljährig und somit erwachsen waren. Mancher wird dann irgendwann festgestellt haben, dass Steuern zahlen, täglich zur Arbeit gehen und Rasen mähen doch nicht so faszinierend sind, wie wir uns als Jugendliche das Erwachsensein vorgestellt haben. Vielleicht berührt Peter Maffay tatsächlich eine innere Wunde und erweckt die Sehnsucht zum Leben, noch einmal Kind zu sein.
Viele verbinden mit Kindheit Empfindungen wie Geborgenheit, Sorglosigkeit und Versorgt-Sein. Als Kinder wurden wir bewundert für alles, was wir schon konnten. Heute zählen nicht Begabungen, sondern Ellbogen. Meistens wird man übersehen. Als Kind war das Älterwerden von Staunen begleitet, wenn die Tante feststellte: „Bist du aber groß geworden.“ Heute bekommen wir auf Klassentreffen von Gleichaltrigen zu hören: „Mensch, bis du alt geworden.“ Jeder Schritt wurde mit Aufmerksamkeit begleitet, während sich viele Erwachsene übersehen und allein gelassen fühlen. Wer tröstet mich heute? Nimmt mich in den Arm, wenn ich gefallen bin? Heute höre ich: „Hab dich nicht so. Sei ein Mann.“ Für viele Menschen zeigt sich im Rückblick das Leben als Kind viel einfacher als in der Gegenwart. Dann fragt man sich selbst, wie konnte man in der Jugend nur den Wunsch haben, möglichst schnell erwachsen zu werden.
Aber wollen wir wirklich noch einmal Kind sein?
Es war auch eine Zeit der Abhängigkeit und Unmündigkeit. Ich unterstelle, dass wir im Grunde froh sind, erwachsen zu sein, unser Leben im Griff zu haben und selbst entscheiden zu können. Die größten Gaben für den Erwachsenen sind die Freiheit und die Selbstverantwortung, auch wenn sich viele Menschen damit überfordert sehen. Sie definieren m.E. das Erwachsensein. Es ist keine Frage des Alters, sondern des Bewusstseins. Kinder können staunen, bewundern und vertrauen. Erwachsene haben oft diese Fähigkeiten verloren, aber sie können fragen und verantworten. Ein Erwachsener nimmt nicht mehr einfach wie ein unschuldiges Kind, was er braucht, sondern fragt nach den Folgen seines Handelns und überlegt, ob er das vor sich, der Schöpfung, der Menschheit und Gott rechtfertigen kann. Erwachsensein erschöpft sich nicht im Erreichen einer Altersgrenze, sondern mündet in der Bereitschaft, das eigene Wollen zu hinterfragen und es in Einklang zu bringen mit dem Wohl aller. Kinder können unersättlich sein. Sie nehmen in großer Unschuld i.d.R. alles, was man ihnen gibt. Erwachsene müssen nicht nur fragen, ob es nicht schlecht für ihren Cholesterin-Spiegel ist, sondern auch ob sie möglicherweise damit die Schöpfung und andere Menschen schädigen. Paulus bringt es für sich selbst einmal auf den Punkt: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war.“ (1Kor 13,11). Optimistisch schreibt er dem Erwachsensein die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur Vernunft zu. Das mag nicht jeder teilen. Gerade im kirchlichen Bereich misstrauen viele Menschen, dass Mündigkeit und Selbstbestimmung wirklich zu den Zielen kirchlicher Verkündigung gehören. Mit der Taufe werden wir Kinder Gottes, so eine feste theologische Aussage über uns. Wir sind Kinder Gottes, definieren die biblischen Schriften unsere Berufung. Ist das eine typische Kirchenfloskel, ähnlich der fast schon abgenutzten Formel „Brüder und Schwestern“, obwohl wir uns unserem Nachbarn gar nicht geschwisterlich verbunden fühlen? Meint die Rede von den „Kindern Gottes“, dass wir gar nicht alles verstehen können und uns einfach zufrieden geben sollen mit dem, was uns das Lehramt als Willen Gottes verkündet?
Wir feiern am Abschluss des Weihnachtsfestkreises den Sonntag „Taufe des Herrn“ als das große Fest der Gotteskindschaft. Für den Kirchenvater Klemens von Alexandrien ist Jesus das „vollkommen Gotteskind.“ Aber Jesus wird uns in den Evangelien nicht als unmündiger Glaubender, sondern als selbständiger Denker vorgestellt. Wenn er sich wiederholt dem Willen des Vaters unterwirft, dann geschieht das nicht aus Zwang, sondern aus freier Entscheidung. Jesus steht vor dem Vater nicht als unterwürfiger Sklave, sondern als Gesprächspartner auf Augenhöhe. Diese Haltung macht ihn zum Kind Gottes. Heute bestätigt die Stimme aus dem Himmel Jesus als das vollkommene Gotteskind in zwei Richtungen. Zum einen geschieht sein Reden und Handeln im Einklang mit dem Willen des Vaters. Zum anderen fixiert sich Jesus nicht an den eigenen Wünschen, sondern fragt nach dem, was vor dem Vater richtig ist. Gotteskindschaft, die uns Getauften zu eigen ist, macht uns nicht zu unmündigen Befehlsempfängern, bindet uns aber zurück an einen Größeren. Sie beschreibt eine besondere Beziehung, die wir zu Gott haben. Wir führen unser Leben nicht in Furcht vor seinem Gericht, sondern in der liebenden Zusage, dass es mit ihm gelingt, wenn wir uns auf ihn einlassen. Karl Rahner hat es treffend formuliert: „Gott kann tausend Schritte auf uns zu machen, aber unseren einen Schritt, den es braucht, um ihn zu begegnen, den müssen wir machen.“ Gotteskindschaft fordert auf, erwachsen im Glauben zu werden. Der Münsteraner Pfarrer Stefan Jürgens macht den erwachsenen Glauben am Gebet fest, wenn er schreibt: „Im Kinderglauben ist das Gebet eine magische Beschwörung, durch die man Gott herbeirufen will. Im Erwachsenenglauben ist Gott der Ewige und Heilige, der unverfügbar bleibt, jedoch mit seiner Liebe am Menschen interessiert ist… In der Magie soll Gott das tun, was der Mensch will, im Glauben darf der Mensch danach fragen, was Gott will, und es mit seiner Hilfe dann auch tun.“ (in: CiG v. 6.10.2019)
Von Erich Kästner stammt die Einsicht: „Mancher Mensch legt seine Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt… Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch." Ähnlich gilt es wohl für unseren Glauben. Wir wachsen aus den Kinderschuhen des Glaubens heraus. Auch unser Kinderglaube muss sich den Herausforderungen und Wechselfällen des Lebens stellen. Wer nie über die Gottesvorstellungen seiner Kommunionzeit hinausschreitet, der wird schnell an seine Grenzen stoßen in der Frage nach der Nähe Gottes in Krisen und Umbrüchen. Es braucht einen mündigen Glauben, der in Gott nicht einen großen Zauberer im Himmel vermutet, sondern sich mit seinen Fragen und Zweifeln an den wendet, der über alle Begrenzungen hinausgeht. Das Fest Taufe des Herrn erinnert uns aber auch daran, dass wir die Wurzeln nicht kappen können. Das kindliche Urvertrauen, das uns in jungen Jahren zu eigen waren, ist noch immer die Basis, die uns hält und nicht fallen lässt, wenn die Stürme des Lebens mächtig aufziehen. Die Beziehung zwischen Jesus und dem Vater und die Worte des Evangeliums sagen uns, dass Gotteskindschaft nicht eine Pflicht, sondern eine Zusage sind, mit der sich das Leben meistern lässt. Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer schreibt: „Am Anfang der Begegnung Gottes mit dem Menschen steht der Satz: „Du bist mein Kind“, im Indikativ, in der Wirklichkeitsform. Es ist nicht der Satz „Du sollst mein Kind sein“, nicht der Imperativ. Es geht bei diesen Worten um das Ur-Element der Anerkennung und Wertschätzung, wertschätzen vor werten. Sein vor Sollen.“ (Heiner Wilmer in: „Trägt. Die Kunst, Hoffnung und Liebe zu glauben“, Freiburg 2020).
Mit dieser Zusage können wir gut Kinder Gottes sein und bleiben. Amen
(Sven Johannsen, Pfr.)
Epiphanie "Ich steh an deiner Krippe hier"
Ich steh an deiner Krippe hier – Liedpredigt zu Dreikönig 2025
„Stille Nacht, Heilige Nacht“, „O du fröhliche“, „Ihr Kinderlein kommet“ oder doch eher etwas säkular „I’m dreaming of a white christmas“ – welches ist ihr liebstes Weihnachtslied? Solange es nicht „Last christmas“ ist, darf man ja durchaus jedes Lied der letzten Wochen und Tage in der persönlichen Hitparade ganz nach oben setzen. Mein liebstes Weihnachtslied ist schon lange „Ich steh an deiner Krippe hier“ von Paul Gerhard. Es wird sicher nicht in der Vorweihnachtszeit in einem Shoppingcenter als Animation zum Einkauf ertönt, ist ganz auf das Weihnachtsfest und den Gottesdienst bzw. die gemeinsame Feier der Familie konzentriert. Ein Ob im früheren Gotteslob mit der alten Melodie von Martin Luther oder im neuen mit der wundervoll feierlichen Bach Vertonung in c-Moll, die Innigkeit und Tiefe in den Worten des evangelischen Pastors und Theologen berühren mich jedes Jahr beim Blick auf die Krippe. Paul Gerhard stellt in seinem Lied die „Ich-Form“ in den Mittelpunkt, ungewöhnlich für ein Kirchenlied, aber er beschränkt so die Empfindungen nicht auf sich selbst, sondern lädt jeden, der das Lied singt, ein, selbst zum „Ich“ zu werden, das an der Krippe steht, das Kind betrachtet und nachdenkt Weihnachten ist nicht nur ein offizieller Feiertag und eine gemeinsame Feiert. Es hat mit mir persönlich zu tun, so die Botschaft von Paul Gerhard. Was geschieht mit mir, wenn ich vor dem Kind stehe und mich von ihm ansprechen lasse? Vielleicht können die großen Protagonisten des heutigen Tages, die Weisen oder Könige aus dem Morgenland, für uns dieses „Ich“ ausfüllen und Emotionen und Fragen in uns zum Klingen bringen, die uns selbst bewegen. Die Sterndeuter oder „Magoi“ wie sie Evangelium benannt werden, haben ja über die Jahrhunderte eine vielfältige Ausgestaltung gefunden. Während Matthäus über ihre Anzahl schweigt, legen die Gaben „Gold, Weihrauch und Myrrhe“ die Dreizahl nahe. Oft werden sie verschiedenen Herkunftsregionen, Europa, Afrika und Asien zugeordnet. In vielen Krippen werden sie als die Typen der Lebensstufen „Jugend“, „Erwachsensein“ und „Alter“ dargestellt. Vielleicht können sie auch mit dem Lied von Paul Gerhard betrachtet unterschiedliche Formen des Glaubens ausdrücken: vertrauender Glaube, betender Glaube und suchender Glaube. Lassen wir sie im Singen der Liedstrophen zu uns sprechen.
1) Ich steh’ an deiner Krippe hier, / o Jesu, du mein Leben; / ich komme, bring und schenke dir, / was du mir hast, gegeben. / Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, / Herz, Seel’ und Mut, nimm alles hin / und lass dir’s wohl gefallen.
Wie gerne würde ich es in jedem Augenblick bekennen, dass Gott das Höchste, Wichtigste und Größte in meinem Leben ist. Ich weiß ja, dass ich mit meinem Gott alle Mauern überspringen kann, wie es der Psalm sagt. Ich möchte einen Glauben haben, der absolut vertrauen kann und nicht zweifelt. Oft spüre ich die Nähe Gottes und weiß, dass er da ist. Mein Geist und mein Herz, wenn sie nur an ihm ausgerichtet sind, erweisen sich als stark und fest, unbeirrbar und klar. Ja, ich kenne die Momente, in der in der Beziehung mit Gott alles stimmt, in denen ich mich geborgen und getragen weiß, wie Dietrich Bonhoeffer in der ursprünglichen Abschlussstrophe seines bekannten Gedichts zum Jahreswechsel 1944 / 45 in der Zelle seines Gefängnisses schreibt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen /und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Wenn ich an die Krippe trete, dann möchte ich in kindlichem Vertrauen meinen Geist, meinen Sinn, mein Herz und alles, was mich ausmacht dem in die Hände geben, der mich befähigt hat, Mensch du Person zu sein. Ja, manchmal ist mein Gottvertrauen grenzenlos. Dann kann ich beten und Gewissheit gewinnen über mich, die Welt und den Sinn des Lebens.
2) Da ich noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren / und hast dich mir zu eigen gar, / eh ich dich kannt’, erkoren. / Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wolltest werden.
„Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?“ Die großen Fragen bewegen jeden Menschen. Mancher lebt so oberflächlich, dass er den Anschein erweckt, ihn würden nur der Spaß und das Besitzen interessieren. Aber spätestens in einer Lebenskrise kommen die großen Fragen in mir auf: „Woher? Wohin? Warum?“ Wer gibt mir Antwort? Die Wissenschaft beschreibt, wie ich bin und erklärt auch manche Eigenschaften, warum ich so bin wie ich bin, aber einen Sinn kann sie mir nicht schenken. Die Philosophie stellt die Lebensfragen in den Mittelpunkt ihres Denkens, aber kommt spätestens dann an die Grenze, wenn sie mir Hoffnung auf die Zukunft machen soll. Ideologien entwerten mich als Teil eines Systems, in dem immer die Gemeinschaft höher steht als meine Person. „Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.“ Das Kind in der Krippe offenbart mir, dass Gott Mensch wie ich wird, weil ich nicht Gott werden kann. Er hat schon einen ewigen Plan für mein Leben und es immer schon im Voraus bedacht. Ich bin kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur oder einfach eine willkürliche Anordnung von Chromosomen. Ich bin Person. Ich bin fähig zum „per-sonare“, zum Durchtönen. Durch mich klingt die Stimme des Schöpfers, der mir sagt, dass ich meinen Wert habe, nicht weil ich dies oder jenes kann oder leiste, sondern weil ich bin, weil ich sein bin.
"Ich lebe, weiß nicht wie lang, Ich sterbe, weiß nicht wann, Ich fahre, weiß nicht wohin, Mich wundert, dass ich noch fröhlich bin." Stell der Lehrer Martin von Biberach hilflos fest. Und Martin Luther wird ihm später antworten: „Ich lebe, und weiß wohl wie lange, Ich sterbe, und weiß wohl, wie und wanne; Ich fahr, und weiß, Gottlob! wohin, mich wundert , dass ich noch traurig bin.“ Dem Beter ist das Geheimnis des Lebens schon offenbar. Beten ist nichts anderes als zu spüren, dass ich schon in Gottes Gegenwart lebe. Ich weiß, wohin ich gehe; kein Grund, traurig zu sein, so darf es der Beter bekennen.
3) Ich lag in tiefer Todesnacht / du warest meine Sonne, / die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben, Freud’ und Wonne. / O Sonne, die das werte Licht / des Glaubens in mir zugericht’, / wie schön sind deine Strahlen.
Ein Komet zieht über den Himmel des Jahres 1607, dem Geburtsjahr von Paul Gerhard. Sein Schweif ängstigt die Menschen. Unter einem guten Stern stand das Leben von Paul Gerhard sicher nicht in der Phase, in der das Weihnachtslied schuf. Er weiß, was Leid und Schmerz sind. Er hat sie selbst schrecklich erlebt. Seine Kindheit, Jugend und ersten Berufsjahre als Pastor sind überschattet von den Schrecken des 30jährigen Krieges. Er muss seine Frau und vier seiner Kinder zu Grabe tragen. Der einzige überlebende Sohn ist zunächst in den Wirren des Krieges verschollen. Aber Gerhard verbittert nicht. Seine Lieder sind immer frohe Botschaft. Er sucht nicht nach einer Sternschnuppe, die ihm Glück verheißen könnte. Er weiß, dass Christus seine Sonne ist, die auch die Nacht des Zweifels, der Verzweiflung und der Trauer mit seinen Strahlen durchleuchtet. Eigentlich hat das „Ich“, das da vor dem Kind steht, nicht mehr viel vom Leben zu erwarten: Tod der Lieben und dazu noch Auseinandersetzungen mit der Kirchenleitung müssten ihn völlig desillusioniert haben. Obwohl er in tiefster Todesnacht lag, steht er zuversichtlich und staunend vor dem Kind, das er als seine Sonne erkennt. Der ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, hat über das Lied nachgedacht und kam zum Schluss: „Dieses Staunen erklärt sich auch daraus, dass sich im Stall von Bethlehem eine schier unlösbare Frage von selbst beantwortet: Wie können Gott und Mensch einander begegnen; wie kann das schier Unmögliche Ereignis werden? Vor der Krippe sehen wir, dass sich Gott für uns ganz klein macht. Gott nimmt Wohnung unter uns Menschen, - unter denen, die ein verzagtes Herz und einen zermürbten Sinn haben und kaum noch Gutes zu erhoffen wagen. Er nimmt Wohnung bei denen, die der Verzweiflung anheimgefallen sind. Er nimmt Wohnung auch bei denen, die ihn zynisch herausfordern oder ihn resigniert ablehnen. Gott nimmt Wohnung bei den Menschen, die von ihm alles erwarten und sich mit nichts anderem abspeisen lassen. Darüber lässt sich trefflich staunen, mehr noch als über einen Kometenschweif am Himmel.“ Gott spüre ich nicht immer. Manchmal strecke ich mich aus nach ihm aus und glaube, ins Leere zu greifen. Ich lieg in der Todesnacht. Da wird er meine Sonne, die mir zugedacht Licht, Leben Freude und Wonne.
Dietrich Bonhoeffer meditiert in seiner Gefängniszelle zu Weihnachten 1943 dieses Lied und vertraut seinem Tagebuch an: „In diesen Tagen habe ich das Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“ für mich entdeckt. Ich hatte mir bisher nicht viel daraus gemacht. Man muss wohl lange allein sein, um es aufnehmen zu können. Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es. Denn: Neben dem Wir, gibt es also doch ein, Ich und Christus´.“ Einzeln treten unsere Könige und wir an die Krippe. Im Suchen, im Vertrauen und im Beten dürfen auch wir erkennen. Es gibt nicht nur einen Glauben der Gemeinschaft. Es gibt ein „Ich und Christus“. Mag mich erfüllen, was wir gemeinsam in der letzten Strophe bekennen:
4) Ich sehe dich mit Freuden an / und kann mich nicht satt sehen; / und weil ich nun nichts weiter kann, / bleib ich anbetend stehen. / O dass mein Sinn ein Abgrund wär / und meine Seel’ ein weites Meer, / dass ich dich möchte fassen. (Sven Johannsen, Pfr.)
2. Sonntag n. Weihnachten "dass wir ein weises Herz gewinnen"
Predigt 2. Sonntag n. Weihnachten „Unsere Tage zu zählen lehre uns, Herr, damit wir ein weises Herz gewinnen“
Liebe Schwestern und Brüder
„Hauptstadt Europas“ nennt sich die Stadt Straßburg. Aufgrund der vielen europäischen Institutionen, die hier im Zentrum des Elsass ihren Sitz haben, u.a. Europarat, Europaparlament und europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, und nicht zuletzt aufgrund ihrer langen und wechselvollen Geschichte im Herzen Europas beansprucht die Großstadt an der Ill diesen Vorrang unter den Städten des Kontinents. Wie alle Zentren der europäischen Geschichte am Rhein haben auch die Bürger Straßburg sich vor rund 850 Jahren entschieden, ein neues und repräsentatives Gotteshaus zu bauen. Wie in Freiburg, Basel, Köln und vielen anderen selbstbewussten Stadtgemeinden befreite man sich aus Enge und Dunkelheit der Romanik und baute eine lichtreiche und aufstrebende Kathedrale der Gotik. Das Straßburger Münster zählt zu den herausragenden Meisterwerken dieser Epoche. Die eigenwillige Westfassade mit dem hohen Nordturm, der dem Münster über lange Zeit die Ehre als „höchstes Bauwerk Europas“ sicherte, die wundervolle Rosette über dem Haupteingang und die detailreich ausgestalteten Portale, v.a. an der Südfassade, machen das Gotteshaus zu einer Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Im Innenraum sind es v.a. zwei Sehenswürdigkeiten, die die Aufmerksamkeit des Besuchers fordern und den Kirchenbau zu einer Attraktion machen: Die astronomische Uhr und der Engelspfeiler. Die astronomische Uhr ist gar nicht so historisch, wie die Bezeichnung den Eindruck erwecken mag. Bereits zu Beginn des Kirchenbaus gab es Sonnenuhren und schon im 14. Jahrhundert wurde eine erste astronomische Uhr, die Dreikönigsuhr, eingebaut. Im 16. Jahrhundert entschied der Stadtrat, die alte Uhr, die nicht mehr funktionstüchtig war, durch eine neue Uhr zu ersetzen, die auf der gegenüberliegenden Wand, nahe des sog Engelspfeilers gebaut wurde. Sie war schon eine geniale Umsetzung technischer Fertigkeiten und wies ein Kalendarium, den Umlauf der Planeten und astronomische Voraussagen auf. Nachdem sie 1789 aufgrund von Abnutzung stehen blieb, dauerte es 50 Jahre bis der Stadtrat 1838 den Uhrmacher Jean-Baptiste Schwilgue mit der Restaurierung beauftragte. Der behielt zwar viel von der äußeren Gestaltung der alten Uhr bei, schuf aber im Inneren mit dem Uhrwerk eine technische Sensation. Bis heute läuft es und hat kaum eine Abweichung aufzuweisen. Schwilgue schuf eine Uhr, die genau wie ein heutiger Computer läuft. Sie gibt den exakten Sonnenstand über Straßburg an. Durch mathematische Berechnungen konnte er Wellen konstruieren und einbauen, die beim Berechnen des Jahreslauf auch die Ellipsenform unserer Umlaufbahn berücksichtigen. Präzise laufen die Zahnräder so ineinander, dass sowohl Uhrzeit, Kalendarium und das Besondere der Erddrehung auch nach über 170 Jahren noch passen. Das beeindruckendste Element ist das Räderwerk, das in der Silvesternacht jedes Jahr abläuft und den genauen Osterfesttermin für das neue Jahr und die daraus folgenden beweglichen Fest- und Feiertage errechnet. Die astronomische Uhr im Straßburger Münster ist ein Höhepunkt mathematischer Rechenleistung und menschlicher Techni. Die Uhr im Münster konnte sogar schon 150 Jahre im Voraus die letzte totale Sonnenfinsternis am 11. August 1999 vorherbestimmen. Wer vor der astronomischen Uhr im Straßburger Münster steht, muss den Menschen bekennen als Herr über die Zeit. Der Mensch kann besondere astronomische Phänomene über Jahrhunderte auf die Sekunde genau berechnen. Wir haben die Zeit im Griff. Astrophysiker wagen Prognosen über die Lebensdauer der Erde. Meteorologen können uns über Apps die Regenwahrscheinlich für den nächsten Tag sehr genau aufs Handy laden. Wir wissen, wann Kometen oder Meteoriten an der Erde vorbeirasen. Der Mensch hat sich die Zeit unterworfen und unter Kontrolle gebracht, so die Botschaft des technischen Wunderwerkes im Münster zu Straßburg. Nicht ganz! Die Ausgestaltung der Uhr spricht eine andere Sprache. Über Kalendarium, Planetenlauf und Uhr findet sich ein kleiner Umlauf mit den Figuren der Lebensalter, die alle Viertelstunde im Wechsel vor den Tod treten. Den Tod kann man nicht berechnen, so die Botschaft. Er kommt unbarmherzig zu seiner Zeit und trifft jeden. Nur wenige Meter von der Uhr entfernt steht der sog. Engelspfeiler. Er markiert den Übergang in der Baugeschichte von der Romanik zur Gotik. Eine elegante Säule erhebt sich bis zum Kirchendach im südlichen Querhaus und ist geschmückt mit vier sog. Posaunenengel, über denen Christus als Herr der Zeit steht. Die Engel neigen ihre Köpfe in alle vier Himmelsrichtungen und halten ihre Posaunen noch zum Boden gerichtet, aber schon bereit, das Urteil Gottes über den Menschen in Zeit und Raum zu verkünden. Der Mensch, der scheinbar alles im Voraus berechnen kann, steht unwissend seinem eigenen Ende und dem der ganzen Schöpfung gegenüber. Die beiden wichtigsten Daten kennt er nicht und damit stellt sich die Frage, was nützen ihm all seine rechnerischen und technischen Großtaten. Wir können planen und bauen, aber am Ende müssen wir uns nur allzu oft mit den Worten des Predigers Kohelet eingestehen: „Alles ist Windhauch.“ Ist alle menschliche Kunst nur ein Wahn und wir im letzten Spielball eines blinden Schicksals? Können morgen nicht alle unsere Träume, Pläne und Ideen Makulatur sein, weil die Zeit uns einen Streich spielt? Ja, das muss ich zugeben: Wir können das Morgen nicht mit letzter Sicherheit planen. Wir können Ereignisse und Schicksalsschläge erleben, die uns im nächsten Moment aus der Bahn werfen. Sich allein auf den Verstand zu verlassen in der Planung der Zukunft ist närrisch. Aber die Unwägbarkeiten müssen uns auch nicht defätistisch und hoffnungslos machen. Die Lesungstexte des heutigen Sonntags legen uns eine Haltung ans Herz im Umgang mit unserer Lebenszeit, die uns auch in dem kleinen Prozentsatz an Unvorhersehbaren hilft, nicht aus der Bahn geworfen zu werden: Die Weisheit. Weisheit ist eine Grundhaltung des gelingenden Lebens.
Wir streben nach Intelligenz und erwerben sie durch Lernen, Forschen und Experimentieren. Die Intelligenz ist der Reichtum unseres Verstandes. Wer Geschäfte macht, muss clever sein, sonst wird er schnell über den Tisch gezogen. Zu was aber brauchen wir Weisheit? Weisheit ist Herzenswissen. Sie wächst und ist nicht auf ein bestimmtes Alter festgelegt. Auch ein alter Mensch kann noch immer ein Tor sein. Weisheit ist die Fähigkeit, aus dem Erlebten Schlüsse zu ziehen, die mir helfen, besser und sicherer zu leben. Sie setzt voraus, dass ich mich und das, was ich erlebe, hinterfrage und nicht einfach als abgeschlossen abhacke und ständig nach neuen Erlebnissen giere. Die Weisheit befragt das Geschehene, ob Freude oder Leid, und zieht aus der Antwort die Erfahrung, was mich in den Wechselfällen des Lebens stark macht. Die Weisheit, so unsere Überzeugung, wird mich immer zum letzten Geheimnis des Lebens führen, also zu Gott. Weisheit verbindet ein weites Herz, das mutig sich dem Neuen stellt, mit einer Frömmigkeit, die sich im Vertrauen an Gott festmacht.
Die wunderbare erste Lesung aus dem Buch der Sprichwörter zeichnet die Weisheit als Gottes liebstes Kind, das spielend vor ihm lebt und dabei ist im Augenblick der Schöpfung, also dem Anfang von Zeit und Raum. Es ist keine verkrampfte Haltung und auch keine besondere Therapieform. Weisheit gibt es mit dem Moment, in dem die erste Sekunde der Weltzeit zur Geschichte wurde und gedeutet werden kann, so dass der Mensch aus ihr Schlüsse zieht und Gottes Nähe entdeckt, denn er hat alles geschaffen, so das Wissen der Weisheit. Es ist eine Haltung der Gelassenheit, die nicht hinter jeder Ecke das Böse und das Leid lauern sieht, aber gerüstet ist, wenn sie ihnen begegnet. Die Weisheit gibt uns kindliche Freude am Schönen und am Leben überhaupt als geschenkte Zeit des Schöpfers, auch wenn sie einmal zu Ende geht. Es ist keine Haltung für Experten, die eine jahrelange Ausbildung als „Sinn-Experte“ absolviert haben wie ein Zen-Lehrer. Weisheit ist Teil unseres Wesens als Geschöpfe, ja sie ist die erste Gabe. Paulus erinnert uns daran in der heutigen Lesung aus dem Brief an die Epheser: „Der Gott Jesu Christi … gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt. Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid.“ Weise ist nicht der Mensch, der seine Augen vor allen Gefahren verschließt, und schon gar nicht der Mensch, der aus Angst sich nicht mehr am Leben freuen kann. Weise ist der Mensch, der das Leben wagt, weil er weiß, dass Gott es mit uns lebt. Um uns das wissen zu lassen, wurde sein Wort Mensch, Jesus Christus, Gottes Weisheit und Kraft, wie ihn Paulus identifiziert.
Gläubige Weisheit findet sich in dem kurzen Gebet des Psalmisten: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz. (Ps 39,5) Dem Beter geht es nicht um mathematische Hochrechnungen über meine Lebenswahrscheinlichkeit, sondern um das Bewusstsein, dass Leben endlich ist, aber dennoch Geschenk bleibt. Den Tag in der Gewissheit zu beginnen und zu beenden, dass mir jeder Augenblick als Möglichkeit geschenkt ist, gut zu leben, ist für mich die Haltung des weisen Menschen. Den Morgen zu beginnen mit dem Dank für den neuen Tag und den Abend zu beenden mit dem Dank für alles, was mich heute reifen ließ, nimmt mir die Angst, dass ich etwas verpasse und zu kurz komme. Weisheit erinnert mich daran, dass ich jeden Augenblick in der Gegenwart Gottes erlebe und so nie etwas verpasse. Ich kann meine Zeit berechnen und kalkulieren, besser ist es, sie zu leben und zu füllen mit Weisheit und Hoffnung, damit ich die Zeit auskosten kann, die mir geschenkt ist. Amen. Sven Johannsen, Pfr.
Silvester "Wem die Stunde schlägt"
Predigt Silvester 2024 - Wem die Stunde schlägt
Einleitung: Kantor spielt die Grundmelodie des Carillon von Westminster
Liebe Schwestern und Brüder,
lassen Sie mich am Ende dieses Jahres ein wenig persönlich werden. Vor genau einem Jahr wusste ich, dass es mein letztes Weihnachten in Lohr sein wird. Die Gemeinde ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Natürlich begleiteten mich Wehmut bei den Feiern in der Kirche, für deren Umgestaltung ich vor zehn Jahren verantwortlich war, aber irgendwie war da auch die Beruhigung: Es sind ja noch acht Monate, also viel Zeit. Aber Zeit rennt und verrinnt. Im Januar folgte die Bekanntgabe im Gemeinde-gottesdienst. Verbunden mit der Trauer dominierte noch das Gefühl der Sicherheit: Wir haben ja noch Zeit. Ostern und Pfingsten, das Fest, das in Lohr sehr groß gefeiert wird, stehen noch aus. Dann kam Pfingsten und immer noch war Zeit: Pfarrfeste und Fahrten standen an. Dann war schließlich der 28. Juli da und damit der Moment des Abschieds. Wenige Tage später saß ich im Pfarrbüro in ULF und am Fest Mariä Geburt gab es kein Zurück mehr: Jetzt war ich endgültig Pfarrer der PG Würzburg Ost. Mittlerweile sind seit dem 1. August vier Monate vergangen und aus dem Rückblick von Michael Eberlein konnte ich heraushören, dass ich schon einige große Veranstaltungen und Ereignisse in der Gemeinde miterlebt habe. Am Jahreswechsel blicke also auch ich zurück. Natürlich bewegen mich Fragen: Vermisse ich Lohr? Bin ich in Würzburg angekommen? Ja, ich muss bekennen, dass ich Lohr vermisse. Es waren sechzehn gute und erfüllte Jahre. Ich kam und übernahm die Pfarreien in einer sehr schwierige Situation und konnte erleben, dass die Gemeinden aufblühten. Es entstanden Freundschaften und Verbindungen, die am 1.8. nicht gekappt wurde. Ich freue mich immer noch, dass Lohrer mich in Würzburg besuchen und denke gerne an eine gute Zeit zurück, auch mit der Gefahr, dass ich verkläre. Ich glaube, dass die entscheidende Frage nicht ist, ob ich Lohr vermisse. Das müssen Sie mir zugestehen. Wirklich wichtig ist die Antwort auf die Frage „ob ich in Würzburg angekommen bin?“ Ehrlichen Herzens kann ich das bejahen. Vor einem Jahr war ich mir nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung ist. Der Zweifel ist weg. Ich erlebe eine herzliche Aufnahme und viel Bereitschaft, mit dem neuen Pfarrer zusammenzuarbeiten und auch etwas zu entwickeln. In meinem Herzen, das kann ich gestehen, gibt es manchmal noch melancholische Erinnerungen an eine gute „alte“ Zeit“, aber eben auch die Freude am Neubeginn mit Enthusiasmus und vielen Visionen. Im Rückblick muss ich aber auch gestehen, dass die Zeit mir manchmal zwiespältig erscheint. Sie kann flüchtig sein, aber auch dicht und gefüllt sein mit Ideen und Begegnungen. Zeit lässt sich nicht aufhalten. Es hilft auch nichts, dass ich mich nicht verändern will. Sie geht voran. Der alte Lehrsatz für jeden Lateinschüler, der einmal Hexameter lernen musste, gilt unabdingbar: „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“. In der Eingangsmelodie, die unser Kirchen-musiker zu Beginn der Ansprache gespielt hat, wird das mit allen Sinnen wahrnehmbar.
Kantor spielt die Grundmelodie des Carillon von Westminster
Mancher hat sofort die Melodie erkannt, die unser Kantor eben eingespielt hat. Sie nimmt den sog. Westministerschlag auf, also jene Melodie, die die 5 Glocken des Westministerpalastes, also des englischen Parlamentes, unter ihnen die berühmte Big Ben-Glocke, jede Stunde bzw. in veränderter Weise jede Viertelstunde erklingen lassen. Es ist wohl die bekannteste Glockenmelodie der Welt. So wie wir sie gehört haben, schlägt sie jeweils zur vollen Stunde und erinnert eindrücklich daran, dass die Zeit unaufhaltsam vergeht. Für viele London-Touristen gehört dieser berühmte Westministerschlag zu den Hauptattraktionen der englischen Hauptstadt. Jemand hat den Glockenschlag an Westminster einmal wie den immer gleich bleibenden Pulsschlag der Zeit beschrieben. Ein schönes Bild, das vielleicht auch in den Rückblick dieses Jahres passt: Wir haben hektische Zeiten erlebt, in denen alles hoch herging und wir nicht wussten, wie wir alles auf die Reihe kriegen sollen. Für manchen schien die Zeit aber auch stehenzubleiben: Manche Krise, manche Krankheit wollte einfach nicht überwunden werden. Manch alter Mensch empfand die Zeit als quälend langsam. Wie auch immer wir dieses Jahr erlebt haben, wahrscheinlich werden beide Erfahrungen sich mischen: Die Zeit, die uns 2024 geschenkt war, war immer die gleiche. Sie liefen nach den gleichen Gesetzen ab, nichts wurde uns genommen und wir haben nichts versäumt. Wenn wir uns mit diesem Jahr aussöhnen wollen, dann auch v.a. damit, dass wir die Gewissheit mitnehmen, dass uns auch jetzt wieder 1 Jahr, 12 Monate, 365 Tage, 8760 Stunden, 525600 Minuten geschenkt werden. Jeder Glockenschlag lädt dann auch ein, bewusst den Augenblick zu leben.
Es wird erzählt, dass das Thema der Melodie zurückgehe auf einige Takte aus Händels „Messias“ und die die Sopran-Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ aufnimmt. Der Stundenschlag von Big Ben umspannt beide Pole: Das Wissen, dass etwas abgelaufen ist, dass diese Stunde, deren Ende eingeläutet wurde, für immer und endgültig verloren ist, aber auch die Gewissheit, dass Neues anbricht. Vielleicht hilft uns diese Polarität auch für den Silvesterabend. Wenn wir später um Mitternacht anstoßen, dann prosten wir uns zu mit dem Wunsch: „Ein gutes neues Jahr“. Wir richten uns ganz auf das Kommende aus. Der Schlag der Glocken aber nimmt, bevor er die neue Zeit ansagt, zuerst einmal das Zeichen für die vollendete Stunde auf. Er lädt ein, dankbar wahrzunehmen, dass sich wieder eine Stunde unseres Lebens erfüllt hat, dass wir noch da sind, dass es gesegnete Zeit war und erinnert an das Pauluswort: „Als die Fülle der Zeiten gekommen war, sandte Gott seinen Sohn“. Jede volle Stunde atmet von dieser Fülle der Zeiten, von der weihnachtlichen Stunde, die es auszukosten gilt. Sie ruft uns in Erinnerung, dass etwas abgestorben ist, unwiderruflich verflossen, und bekennt doch mitten in die Todeserfahrung der Zeit das Leben: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Vielleicht dürfen wir uns heute Nacht nicht nur „Ein gutes Neues“ wünschen sondern auch „Danke für das Vergangene“.
Darüber hinaus erfüllen die Glocken, die unsere Stunden einläuten, noch einen höheren Zweck. Zahlreiche Glockenwerke auch an unseren Türen, in unseren Schulen, an öffentlichen Gebäuden haben die Melodie von Westminster übernommen. Aber nur wenige wissen, dass mit der Melodie auch ein Gebet verbunden ist. Während beim Glockenschlag viele staunend oder erschrocken nach oben schauen, weil schon wieder eine Stunde um ist, verkünden die Westministerglocken ihr berühmtes Gebet:
Glockenschläge mahnen zum Innehalten, erinnern uns, dass Zeit verflossen ist, aber sie beten auch. Während die Menschen erinnert werden, wie wertvoll Zeit ist und wie schnell sie zerrinnt, beten die Glocken schon für das Neue. Sie stehen für den Wechsel von Vergangenheit und Kommenden und sie leiten ihn ein mit einem Ruf an Gott. So haben die Glocken in unserem Gottesdienst am Altjahresabend auch besondere Bedeutung. Sie werden läuten zum Te Deum am Ende des Gottesdienstes, als Dank für das Vergangene und sie werden das Neue Jahr einläuten und willkommen heißen. Sie tun es nicht mit irgendeiner spaßigen Melodie. Immer gleich bleibend schlägt die Melodie unserer Glocken in die hektische Welt, deren Zeit abläuft, ihr Gebet als Dankgebet für das Vergangene und als Bittgebet für das neu Anbrechende.
Sie erinnern uns am Ende dieses Gottesdienstes daran, dass 1 Jahr, 12 Monate, 365 Tage, 8760 Stunden, 525600 Minuten 2024 nun zu Ende gehen: Stunden der Freude und der Sorge, Stunden tiefen Glücks in der Gemeinschaft von liebenden Menschen, Stunden schrecklicher Einsamkeit in Krankheit und Trauer, Stunden voller Hoffnung bei der Geburt und der Taufe eines Menschenkindes, Stunden des Streites und des Nicht-Verstehens, Stunden, in denen wir liebten, hassten, hofften, glücklich waren, in denen wir einfach Zeit vergeudeten, in denen wir arbeiteten, sorgten, trösteten, ermutigten, Stunden unseres Lebens. Und zu jeder einzelnen haben die Glocken unserer Kirche ihr Gebet um Gottes Begleitung in den Himmel geschickt, ob wir es gemerkt haben oder nicht.
So mahnen uns die Glocken, die heute die Mitte der Nacht verkünden, zu einer Haltung, wie sie der frühere bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß als seine Lebenseinstellung bekannte:
Dankbar rückwärts, mutig vorwärts, gläubig aufwärts:
Wir vergessen dabei auch jene nicht, für die in diesem Jahr eine besondere Stunde geschlagen hat:
Für die Kinder, deren Taufe unsere Kirchenglocken verkündeten, für die Firmlinge, die durch Weihbischof Paul das Sakrament des Heiligen Geistes empfingen, für die Paare, die den Bund der Ehe hier und in anderen Kirchen geschlossen haben und mit großem Geläut auf den gemeinsamen Lebensweg aufgebrochen sind. Aber auch das Leben der Brüder und Schwestern, deren irdischer Weg 2024 zu Ende ging, haben wir an die große Glocke gehängt.
In diesem Gottesdienst sammelt sich all diese Erfahrung des dankbaren Rückblicks und des hoffnungsfrohen Aufbruchs noch einmal und mündet ein den Doppelchoral unseres Singens und des Glockenklanges, wenn wir im Te Deum „Großer Gott wir loben dich. Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit“ den Abschied des alten Jahres einläuten und das neue Jahr willkommen heißen.
Mit großer Klangfülle hat der Louis Vierne, über viele Jahrzehnte Organist an Notre Dame, das Thema des Glockenschlages von Westminster aufgenommen und in einem Orgelwerk vielfältig in allen Höhen und Tiefen durchdacht, so dass er uns gut ins neue Jahr begleiten kann:
Kantor spielt von Louis Vierne Carillon von Westminster
Sven Johannsen, Pfr.
Heilige Familie "Haustier oder Kinder?"
Liebe Schwestern und Brüder
„Tiere gehören nicht unter den Weihnachtsbaum!“ - Nicht nur Tierschutzorganisationen warnen davor, Haustiere als Weihnachtsgeschenke am Heiligen Abend zu verzwecken. Viele Tierheime setzen in den Wochen vor Weihnachten bis in den Januar hinein die Abgabe von Hunden und Katzen aus, weil die Erfahrung lehrt, dass die Lust am Leben mit dem Haustier nach den Feiertagen oft schnell verfliegt und die Tierheime keine Aufnahmemöglichkeiten mehr bieten können für die Tiere, die dann abgegeben werden. Dennoch gehören in Deutschland Tiere zur Familie. In Rund 45% der deutschen Haushalte leben Hunde, Katzen, Meerschweinchen und manche sehr exotischen tierischen Hausgenossen, unter ihnen Stachelschweine, Stinktiere oder auch verschiedene Affenarten. Die Deutschen schätzen das Leben mit tierischen Mitbewohnern. Das hat sich im Jahr 2023 erneut bestätigt: Im vergangenen Jahr lebten 34,3 Millionen Hunde, Katzen, Kleinsäuger und Ziervögel in deutschen Haushalten. Das Ranking führen natürlich Hauskatzen an mit rund 16 Millionen Vertretern, gefolgt vom besten Freund des Menschen, dem Hund. Ob es wirklich 16 Millionen Katzen gibt, wird ja bezweifelt. Möglicherweise gibt es nur 100 Katzen, die sich in 16 Millionen Haushalten einquartiert haben. Die Deutschen lieben ihre Stubentiger und Fellnasen und keiner wird bezweifeln, dass das Leben mit Haustieren, bereichernd sein kann. Kinder lernen im Umgang mit tierischen Hausgenossen Verantwortung und Rücksichtnahme. Den übergewichtigen Bürohocker bringt der verspielt agile Beagle wenigsten dreimal am Tag vor die Tür. Für einsame Menschen ist die Katze eine große Hilfe im Umgang mit der Stille und dem Alleinsein. Trauernde und Kranke finden durch sie Zuwendung und Trost. In vielen Pflegeheimen hat man erkannt, welche Vitalität bei Bewohnern aufblüht, wenn Ehrenamtliche ihren Hund mitbringen. In Deutschland dominiert nicht mehr der Schäferhund als treuer und zuverlässiger Hüte- und Hofhund, Katzen und Hunde sind für alle Altersgruppen v.a. zu Schmusetieren geworden. Leben mit Tieren ist eine Bereicherung. Aber hat Tierliebe auch eine Grenze? Die erschreckenden Bilder kennen wir: zitternde Chihuahuas mit diamantbesetzten Halsbändern und in Kaschmirpullover; mit Pralinen rund gefütterte Perserkatzen, die nicht mehr daran erinnern, dass ihre Tierart einmal in der Gruppe der Raubtiere ihren Ursprung hatte, oder Pudel mit lackierten Krallen und bläulich gefärbten Haaren.
Wer den Umgang der Deutschen mit ihren Haustieren nüchtern betrachtet und manche Exzesse wahrnimmt, der wir auch kritisch fragen, ob es da wirklich immer um Tierliebe geht, oder nicht manchmal Selbstliebe im Vordergrund steht. Wird also das Tier als eigenes Wesen um seiner selbst willen geliebt oder nicht für eigene Interessen ausgenutzt? Die Biologin Ursula Bauer, Geschäftsführerin der Organisation „aktion tier“ in Berlin, merkt kritisch an: „Einige Menschen sehen Tiere als Ersatz für Kinder oder Familien und sind der Meinung, Tiere seien die besseren Menschen“ (Die Welt v. 10.3.2021) Vermutlich muss ich diese Sicht nicht belegen. Wahrscheinlich hat jeder von ihnen schon einmal von anderen gehört, dass Menschen sie nur enttäuscht haben, während Tiere treu und liebend sind. In Katzenvideos identifizieren sich Halter selbst als „Mama“ und „Papa“ und dokumentieren auf den sozialen Medien täglich das Leben mit ihren „Kindern“. Die Vierbeiner werden überhöht, verwöhnt und nach menschlichen Maßstäben behandelt. Das ist auch bequem: Tiere geben keine Widerworte und freuen sich, wenn Herrchen und Frauchen nach Hause kommen. In keinem Fall müssen sich „Katzen-“ oder „Hundeeltern“ mit den Flegeleien und pampigen Sprüchen ihres pubertierenden Nachwuchses herumschlagen.
Kein Wunder, dass weltweit der Trend mehr zum Haustier geht als zur Entscheidung für Kinder. Gerade in der jüngeren, erfolgreiche Generation teilen immer mehr die Meinung: „Tiere sind die besseren Kinder. Sie schreien nicht, reden nicht zurück und sind billiger.“ Das ist natürlich verkürzt und unsachlich, aber gerade in einer Partnerschaft, in der Frau und Mann erfolgreich im Beruf sind, wird die Frage aufgeworfen, wer mit der Entscheidung für ein Kind zumindest für eine bestimmte Zeit seine Karriere auf Eis legt. Ein Hund lässt sich da besser mit dem Beruf verbinden. Zunehmend mehr in der Öffentlichkeit bekennen sich Menschen im Alter der Familienbildung zu dem, was man früher nur unter der Hand der besten Freundin oder dem besten Freund anvertraut hat: Ich will keine Kinder, lieber einen Hund oder eine Katze.
Auch im Vatikan nimmt man diese Entwicklung mit Sorge wahr. Immer öfters kritisiert Papst Franziskus eine übertriebene Tierliebe, die eine Art „Ersatzfamilie“ begründet. Natürlich macht er sich mit dieser Haltung keine Freunde. Schon wieder maßt sich ein Vertreter der Kirche an, sich zu privaten Entscheidungen zu äußern, die ihn gar nichts angehen, so die Kritik der Medien. Aber weist er nicht doch auf ein Problem hin, das zukunftsweisend für unsere Gesellschaft ist? Die Liebe zu Tieren und die Entscheidung für Kinder sind keine Alternativen. Familie wird man und bleibt es ein Leben lang. Tiere schafft man sich an und ist auf eine begrenzte Zeit Halter. Familie ist eine Lebensentscheidung. Eltern schenken nicht nur dem süßen Baby, das alle im Arm halten wollen, das Leben, sondern auch dem pickligen Teenager, der es mit Aufräumen und Waschen nicht immer so genau hält. Nicht nur das hübsche Kleinkind, das mit seinem Lächeln Oma und Opa verzaubert, sondern auch der 16jährige, der daheim kaum mehr erzählt von dem, was ihn bewegt, oder wenn doch in einer Sprache, für die Eltern einen Dolmetscher brauchen. Keine Frage: Familie ist nicht immer eine beglückendes Erfahrung. Der Traum von der heilen Familie landet sehr schnell auf dem harten Boden der Interessen unterschiedlicher Persönlichkeiten, die in ihr zusammen-leben. Es gibt Streit zwischen den Generationen, Partner leben sich auseinander, Kinder jeden Alters fühlen sich bevormundet, Eltern, die es nur gut meinen, verstehen nicht, warum ihr Nachwuchs so undankbar ist. Es gibt zwar noch immer ein klassisches Familienbild: Mutter, Vater und Kinder. Dennoch ist das Bild von Familie vielschichtig: Alleinerziehende, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die sich Kinder wünschen… Nicht zu vergessen die Paare, die gerne Kinder hätten, aber aus unterschiedlichen Gründen den Kinderwunsch nicht erfüllt bekommen. Dazu kommen äußere Schwierigkeiten: wirtschaftliche Probleme, unvorhergesehene Krankheiten, seelische Umbrüche, Leben mit Behinderung, Trauer und Abschied, Stress und Überforderung - Mit all diesen Herausforderungen müssen Familien umgehen. Wir kennen die Zahlen, die uns verraten, wie viele Partnerschaften und Familien daran zerbrechen, aber wir erleben auch, dass Familien den Widrigkeiten standhalten. Natürlich birgt die Entscheidung für Familie ein Wagnis, aber Familien erleben auch die Kraft des Zusammenhalts und der Stärke, die sie einander schenken können. Gerade in Krisen kann Familie ihre eigentlichen Qualitäten der Geduld und des Vertrauens entfalten. Das gelingt nicht immer, aber es scheitert eben auch nicht in jedem Fall.
V.a. ist Familie der Schutzraum, in dem sich die Persönlichkeit eines Menschen entfalten kann, gerade auch im Reifen an Widerständen. Das Evangelium vom zwölfjährigen Jesus im Tempel schließt die Kindheitsgeschichte des Lukas ab. Wie in den ersten Zeilen, die von der Begegnung des Zacharias, dem Vater des Täufers Johannes, und dem Engel Gabriel berichten, treten wir mit dem lehrenden Jesus im Kreis der Weisen Israels noch einmal in das Haus Gottes ein, dem Ort seiner Gegenwart. Hier gehört Jesus hin, nicht unbedingt in die vier Wände eines gemauerten Gotteshauses, sondern in den Kreis der Menschen, die über Gott nachdenken und sich über ihn austauschen. Aber wie kommt Jesus zu dieser Einsicht und was motiviert ihn, so souverän zu handeln und einfach zurückzubleiben? Ich würde diese Stärke seiner Erziehung durch Maria und Josef zuschreiben. Wir nehmen sie im Evangelium v.a. als verzweifelt suchende Eltern und dann Maria als erboste Mutter wahr. Wer könnte zwischen den Zeilen des Tadel der Gottesmutter nicht die Strafe heraushören: „Du hast Hausarrest bis zum Erreichen der Volljährigkeit.“ Aber das erscheint mir zu oberflächlich. Die Antwort Jesu zeigt ja, dass er bis zu seinem zwölften Lebensjahr schon innerlich so gereift sein muss, dass er weiß, was das Besondere an seiner Persönlichkeit ist: Die innigste Verbindung mit Gott dem Vater. Fällt eine solche Erkenntnis einfach vom Himmel? Oder wächst sie nicht in einem jungen Menschen durch die Prägung, die er im Elternhaus erfährt? Maria und Josef müssen in ihrer Erziehung doch einiges sehr richtig gemacht haben, denn sie haben dem Kind und heranreifenden Jugendlichen den Raum gegeben, in dem er wachsen kann als Mensch und als Kind Gottes. Sicher sind sie im Augenblick von der provokanten Aktion Jesu entsetzt und ärgern sich darüber, aber vielleicht wird gerade Maria, von der das Evangelium des Lukas immer wieder berichtet, dass sie alles, was geschehen ist, in ihrem Herzen bewahrt, nach einem wütenden Fußmarsch durchs Jordantal sich erinnern, was ihr über dieses Kind gesagt wurde und was sie selbst ihm wohl von klein auf vermittelt hat: Er ist Gottes Geschenk und erfüllt von seinem Geist. Im Tempel wird deutlich, dass Jesus bereits zu seinem innersten Wesenskern gefunden und seine Identität als Sohn Gottes entdeckt hat. Das konnte er, weil ihm die Familie, die nie heile Familie war, den Raum dazu geboten hat. Ich glaube, dass das die Stärke von Familie gegenüber jeder anderen menschlichen Gemeinschaft sein kann: Hier findet der Mensch seine Identität, wenn Eltern oder andere Familienangehörigen ihm / ihr Vertrauen schenken und gute Wegbegleiter sind, so dass er / sie den Plan Gottes entdecken kann. Damit ist keine Zusage verbunden, dass Familienleben immer reibungs- und problemlos abläuft. Ganz im Gegenteil: Eltern können wie Maria und Josef überrascht und voller Sorgen sein über den Weg, auf dem sie selbst ihren Kindern geholfen haben. Sie müssen sich manchmal einen langen Atem und großes Vertrauen bewahren gegen alle gegensätzliche Erfahrungen, um wie Maria am Ostermorgen erst zu sehen, dass ihr Weg richtig war. Es gibt Enttäuschungen, gerade auch im Blick auf die Weitergabe des Glaubens. Der erwachsene Jesus wird seine Mutter, die erneut nach ihm sucht, vor der Türe stehen lassen. Ebenso fragen sich viele Eltern, was aus dem Glauben geworden ist, den sie ihren Kindern vermittelt und vorgelebt haben? Auch wenn erwachsene Kinder aus der Kirche austreten oder nicht mehr zum Gottesdienst gehen, glaube ich nicht, dass die grundsätzliche Prägung aus dem Glauben verloren gegangen ist. Familie ist nicht einfach, auch die Heilige Familie nicht. Aber nirgends kann im besten Fall ein Mensch mehr Mensch werden als in der Gemeinschaft mit den Menschen, die ihm das Leben geschenkt haben und den Raum öffnen, immer mehr er/sie selbst zu werden. Das darf auch Eltern zuversichtlich sein lassen. Im Zusammenleben mit Haustieren kann ich viel Schönes finden, aber nie dieses Glück, Kinder zu mündigen und selbstbewussten Menschen werden zu lassen. Darum lohnt sich auch heute noch Familie. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer
Weihnachtstag "Gott stellt die Vertrauensfrage“
Predigt Weihnachtstag
„Gott stellt die Vertrauensfrage“
Das kalkulierte Misstrauen soll die Rettung bringen, so die Strategie des noch amtierenden Bundeskanzlers, der am 16.12. im Bundestag die Vertrauensfrage stellte. Er wollte bewusst die Abstimmung verlieren, um so den Bundespräsidenten zu bewegen, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Misstrauen als Signal für einen Neuanfang bedeutet letztlich, dass aus der Niederlage auf einen späteren Sieg gezielt wird. Dieses Wagnis sind mehr oder weniger notgedrungen in der Geschichte der Bundesrepublik schon mehrere Kanzler eingegangen: Willy Brand, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und zweimal Gerhard Schröder. Der einzige Regierungschef, der auf einen positiven Ausgang hingearbeitet hatte, war wohl Helmut Schmidt, der im Februar 1982 von seiner eigenen Partei die Unterstützung für die Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses suchte und tatsächlich die Abstimmung auch gewann, aber wenige Monate später durch das Ausscheiden der FDP gestürzt wurde. Er hat das mit der ihm eigenen hanseatischen Würde getragen.
Aus einer strategischen Misstrauensbekundung soll neues Vertrauen bei der nächsten Wahl erwachsen, das hinterlässt nicht nur einen bitteren Beigeschmack, sondern weckt große Zweifel unter den Menschen, warum Politiker nicht in der Lage sind, Brücken zu bauen und konstruktiv miteinander Entscheidungen zu finden. Viele misstrauen dem Weg und fragen: Wenn es jetzt nicht gelungen ist, wie soll es im Februar besser werden? Was sicher schon feststeht: Nicht nur der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage verloren, auch die Politik in Deutschland leidet unter wachsendem Vertrauensverlust.
Die Frage nach dem Vertrauen zu stellen und auf Misstrauen zu vertrauen, ist keine glaubwürdige Art, in Menschen Hoffnung für die Zukunft zu wecken.
„Vertraust du mir?“ - diese Frage stellt uns heute auch das Kind in der Krippe. Weihnachten ist die Vertrauensfrage Gottes. Kann es wahr sein, was wir heute Nacht im Kreis der Hirten gehört haben: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ Der Retter der Welt als schreiendes Neugeborenes in einem Stall im unfriedlichsten Teil dieser Erde geboren - Kann ich auf ihn meine Hoffnung setzen? Die Vertrauensfrage wird angesichts der Ereignisse der letzten Tage konkreter: Wie will das Kind von Bethlehem die Menschen in Magdeburg aus dem Entsetzen über den furchtbaren Anschlag retten, den Angehörigen eines getöteten Kindes Trost geben und die Bürgerinnen und Bürger einer Stadt, die sich einfach nur friedlich auf einem Weihnachtsmarkt in das kommende Fest einstimmen wollten, von Hass und dem Wunsch nach Vergeltung abhalten? Das Kind lehrt uns: Rettung heißt nicht, dass eine Katastrophe verhindert wird, sondern dass uns jemand aus ihren Folgen und Auswirkungen befreit und wieder zum Leben führt. Das sollen wir diesem Kind zutrauen. Solches Vertrauen ist ein fast unmögliches Wagnis. Aber zugleich wissen wir, dass wir ohne Grundvertrauen nicht leben können. Wir können die nächste Generation nicht ins Leben schicken als Actionhelden, die schneller den Revolver ziehen als ein vermeintlicher Gegner. So wie wir sinnlosen Terror durch Fanatiker erlebt haben, so standen wir angesichts von Amokläufen an Schulen genauso oft fassungslos vor Taten, die durch Menschen ausgeübt wurden, die kein Vertrauen in andere Menschen und ins Leben hatten. Grundvertrauen ist die Basis des Lebens. Eltern müssen vertrauen, dass der Weg ihres Kindes bei allen Höhen und Tiefen gelingen wird, sonst werden sie sich nie entscheiden, einem Kind das Leben zu schenken. Kinder sind vom ersten Augenblick ihres Daseins darauf angewiesen, ihren Eltern zu vertrauen, dass sie nicht nur ihr Überleben sichern, sondern alles tun, ihnen eine glückliche Zukunft zu ermöglichen, damit sie zu liebenden Menschen werden können. Angesichts einer Welt, die immer mehr vom Schrecken der Gewalt und von der Angst vor dem Nichtvorhersehbaren heimgesucht wird, müssen wir uns immer bewusst machen, dass die Menschheit ohne Grundvertrauen ins Leben keine Zukunft hat. „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, soll Martin Luther einst gesagt haben.“ Und Reinhard May hat in Anlehnung an diesen Aphorismus über sein neugeborenes Kind in einem Lied gesungen: „Du bist das Apfelbäumchen, das ich pflanz'.“
Sind wir zum Vertrauen in die Zukunft verurteilt? Das wäre Zwangs-optimismus, der niemals Frucht getragen hat. Nach Vertrauen werde ich gefragt und muss mich entscheiden. Vertrauen muss ich schenken. Um unser Vertrauen wirbt Gott am heutigen Weihnachtstag, so die Botschaft des Johannesprolog: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben,“
Wer ihm vertraut, sich für seinem Wort öffnet und ihm Raum gibt in seinem Herzen, sich also in seinem Denken und Handeln von seinem Willen leiten lässt, der hat das Leben und der schafft Raum zum Leben.
Die Vertrauensfrage Gottes gründet in der Gewissheit: Es ist Gott nicht egal, wie die Menschen zu ihm stehen. Darum tritt er ihnen heute nicht mit einer überwältigenden Macht gegenüber, die jeden Zweifel im Keim ersticken lässt, sondern schutzlos und ohnmächtig in einem kleinen Kind. „Kannst du an mich glauben“, fragt uns das Kind von Bethlehem. Wer glaubt, der verschenkt sein Herz, so die lateinische Wortbedeutung von „credere“, der setzt all sein Hoffen auf den, dem er vertraut. Im Weihnachtslied „Zu Bethlehem geboren“ singen wir es als unser Bekenntnis: „In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab; mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab.“ Das ist mehr als ein altmodischer Liedtext, das ist ein klares Bekenntnis zum Gott im Futtertrog. „Alles, was ich hab,“ das meint nicht so sehr mein Besitzen und Haben, sondern das, was mich als Person auszeichnet, meine Freude und Hoffnung, meine Trauer und Angst, mein Scheitern und Verletzen, mein Sein mit Haut und Haar. Alles auf die Karte „Gott“ setzen, darum wirbt das Kind.
Warum? Was hat Gott davon, wenn er die Vertrauensfrage stellt? Es könnte ihm egal sein, ob die Menschen an ihm hängen, ob sie ihm glauben und vertrauen. Er kann mit seiner Herrschaft über die Schöpfung gar nicht scheitern oder gar abgewählt werden. Gott hat nichts von Weihnachten, wenn man es in unserer menschlichen Nutzenssprache ausdrücken will. An Weihnachten geht es nicht um Gottes Erfolg, sondern um den Menschen.
Der ehemalige Aachener Bischof Klaus Hemmerle schreibt in einer Weihnachtsmeditation: Heute ist das Wort Fleisch geworden, das aber heißt: Hier interessiert sich einer für uns, der nichts davon hat. Gott hat alles, und wenn er Mensch wird, so hat er nichts davon. Er wird Mensch nur für uns. Gottes Interesse für uns teilt nicht nur freundliche Geschenke aus, während er selbst in Distanz bleibt, sondern sein Interesse für uns treibt ihn hinein in unsere Situation. Er kommt dorthin, wo wir sind, er steigt ein in unser Leben. Das Wort, das bei Gott ist und Gott selbst ist, wird, was wir sind, wird Fleisch. Er interessiert sich mit sich selber, mit seinem Innersten für uns, so sehr, dass er sich für uns aufs Spiel setzt. Wenn die Grundbotschaft des Christentums heißt: Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, dann ist dieses Interesse Gottes an uns in der Tat die innerste Mitte des Christseins.“
Die innerste Mitte des Christseins ist Gottes Interesse an uns. Da trifft Weihnachten genau die Lebenserfahrung vieler Menschen, die sich ängstlich fragen: Interessiert sich überhaupt jemand für mich? Nicht nur kranke, alleinstehende und alte Menschen fragen so. Diese Frage quält auch viele, die mitten im Leben, in der Familie und im Beruf stehen: Bin ich jemanden wichtig? Werde ich vielleicht nur geachtet, weil ich für andere etwas leiste? Zähle ich als Mensch oder nur als Nutzbringer? Gewiss, alle, die mir etwas verkaufen wollen in der Werbung, die mich für ihre Politik gewinnen wollen oder mich zur Mitarbeit motivieren wollen, versuchen mir dieses Gefühl von Wichtigkeit zu vermitteln. Aber wer meint es wirklich ernst? Wem kann ich glauben, dass er mein Vertrauen nicht nur ausnutzen will? Wem kann ich mich anvertrauen? Viele quält insgeheim das Gefühl, uninteressant, zu sein.
Genau in diese Erfahrung hinein spricht das Kind in der Krippe, das nicht als großer Weltenherrscher, sondern als der kleinste Mensch zur Welt kommt, ein befreiendes Wort: „Du bist mir wichtig. Ich will nichts von dir. Was könntest du, Mensch, mir auch geben, was ich nicht hätte? Ich will dich.“
Gott wird nicht nur der Welt geboren, er wird für mich geboren, das gilt es heute zu bedenken und zu glauben. Einer, der nichts von mir hat, und doch alles von meinem Vertrauen hat, das ist der Gott, der uns aus der Krippe her anschaut.
Die Vertrauensfrage Gottes „Glaubst du an mich“ mündet in die Vertrauens-frage des Menschen selbst „Kann ich glauben, dass ich unendlich wertvoll bin in Gottes Augen?“. Dabei geht es nicht um eine ungeheuerliche Selbstüberschätzung bis ins Maßlose. „Wir sind arme Sünder“, sagt Martin Luther nach einer großen Lebensleistung am Ende seines Lebens. Wir bleiben Menschen dieser Erde, mit unseren Vorzügen und unseren Fehlern, die uns immer wieder niederdrücken. Aber hier in unserem Leben begegnet uns der „Gott, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“, wie Paulus im Galaterbrief sagt. Aus dieser Hoffnung, und nicht aus der Erfahrung des Scheiterns und des Misstrauens, gilt es seit dem ersten Weihnachtstag zu leben. Dieses Vertrauen trägt auch in dunklen Zeiten, wenn die Welt im Aufruhr erscheint und im Chaos von Magdeburg, Berlin, Paris und so vielen anderen Orten, die von furchtbaren Taten heimgesucht wurden, zu versinken droht.
Zu diesem großen weihnachtlichen Vertrauenswagnis mag uns ein Text des sprachgewaltigen Poeten Hans Dieter Hüsch ermutigen:
Wir bitten Gott den Allmächtigen
Er möge uns behilflich sein:
dass wir Weihnachten nicht wie Karneval feiern,
dass wir das Wunder von Bethlehem nicht mit
einem Musical plus Domführung plus Reeperbahn
plus Hafenrundfahrt und Rhein in Flammen verwechseln,
sondern dass wir die Stille und das Heilige,
nicht nur in der Nacht, neu entdecken -
unser kleines und endliches Sein spüren,
aber mit Jesus Christus gleichsam neu auf die Welt
kommen, auch wenn wir schon betagt sind.
Große Freude ist uns verkündigt worden,
soll in uns Leben, Erbarmen und Zuversicht werden,
uns begleiten:
Christus ist unter uns, urjung und uralt,
Freiheit und Erlösung als Geschenk.
Möge Gott der Herr, unser Vater
unseren Dank annehmen
und unsere Bitten erhören.
Wir sind alle seine Kinder und freuen uns auf
jede Zeit (ob Tageszeit, ob Jahreszeit),
auf jede Zeit mit Jesus Christus. Amen.
(Ein Text von Hanns Dieter Hüsch aus "das kleine Weihnachtsbuch")
Sven Johannsen, Pfarrer
Heilige Nacht "„Warum es gut ist, Weihnachten in der Kirche zu feiern“
Predigt Christmette 2024
„Warum es gut ist, Weihnachten in der Kirche zu feiern“
Liebe Schwestern und Brüder
1% mehr - das ist nicht der aktuelle Umfragewert des Politbarometers für eine politische Partei, sondern die Prognose für den Besuch der diesjährigen Weihnachtsgottesdienste in einer Studie der Universität der Bundeswehr in München. Waren es 2023 noch 15% der Deutschen, die bereits im Vorfeld angaben, einen Kirchgang zu Weihnachten zu planen, so erhöhte sich der Anteil der Befragten, die für 2024 eine Mitfeier der Gottesdienste auf ihrem Festprogramm fest verankert haben, auf 16%. Natürlich ist das kein Comeback der Vor-Corona-Jahren, in denen ein FDP-Politiker einmal ernsthaft angesichts überfüllter Kirchen am Heiligen Abend den Vorschlag machte, Platzkarten auszugeben für die Gottesdienstbesucher, die auch unter dem Jahr am Gemeindeleben teilnehmen. Die Euphorie der Kirchenleitung wird zusätzlich eingebremst durch die Ausführungen der Forscher, dass religiöse und kirchliche Themen im Umfeld der Weihnachtsfeiern unter den Deutschen den letzten Platz einnehmen. Ganz oben auf der Wunschliste der Befragte stehen „Zeit mit den Liebsten“ (73%), Ruhe / Besinnlichkeit (63%) und gutes Essen (60%). Erst am Ende der Skala kommt mit 13% der religiöse Zusammenhang, der sich mit dem Weihnachtsfest verbindet. (vgl. katholisch.de/artikel/58124-studie-so-viele-deutsche-wollen-eihnachtsgottesdienste-besuchen) Es wäre also Selbstbetrug, von einem Weihnachtsfest des christlichen Abendlandes zu schwärmen. An Weihnachten stehen für den Großteil der Zeitgenossen völlig andere Anliegen im Vordergrund als Kirche und Glaube. Diese Entwicklung drehen wir nicht zurück.
Dennoch zeigt die Umfrage, dass das vermeintliche Gesetz „Was einmal weg ist, kommt nicht mehr“ nicht absolut gelten muss. Auch wer in den letzten Jahren ausgelöst durch die Pandemie keinen Gottesdienst an Weihnachten mitgefeiert hat, kann etwas vermissen und es neu probieren wollen. Das heißt aber nicht, dass Weihnachten ein Selbstläufer ist. Nicht nur die Menschen, die jetzt neu wieder zum Gottesdienst kommen, sondern auch wir erwarten etwas von der Feier der Menschwerdung Jesu in den Kirchen. Vielen Menschen ist der Gottesdienst an Weihnachten wichtig. Was bewegt sie, ihr Komfortzone des warmen und gemütlichen Zuhauses zu verlassen und sich mehr als eine Stunde in einer mehr oder weniger gut geheizten Kirche den frommen Sprüchen des Pfarrers auszusetzen? Das ist keine theoretische Frage, es trifft uns ja persönlich. Was motiviert uns, so spät am Abend Gottesdienst zu feiern, wenn ich gleichzeitig zuhause satt bei einem oder mehr Gläsern Rotwein und guten Gesprächen den Abend ausklingen lassen könnte? Wir finden uns auch in dieser Runde in unterschiedlichen Situationen: Manche von uns feiern jeden Sonntag den Gottesdienst hier mit, andere konzentrieren sich bewusst auf diese Heilige Nacht. Warum also sind wir da? Nur aus Gründen der Tradition? Das ist in meinen Augen gar nicht so wenig. Weihnachten ist der Inbegriff von Tradition und Tradition ist sehr wichtig für eine Gemeinschaft. Wir beklagen in unserer Zeit, dass das Leben immer individualistischer wird und die Gesellschaft keinen Zusammenhalt hat. Rituale dagegen verbinden. Damit das Fest sinnstiftend sein kann, muss die gemeinsame Basis von Weihnachten mehr als Gänsebraten mit Klößen und Rotkraut und ein schön beleuchteter Tannenbaum sein. Gerade die Älteren können noch erzählen, wie selbstverständlich es war, dass alle Familien der Stadt oder des Dorfes in die Mitternachtsmesse kamen und die Zeit davor noch als Advent begangen wurde. Es gab ähnliche Abläufe und Bräuche, die allen vertraut war. Gerade der Weihnachts-gottesdienst bietet den unterschiedlichen Menschen unserer Zeit eine gemeinsame Basis des Feierns. Wir kennen die Symbole. Stellen Sie sich vor, wir hätten in diesem Jahr auf Baum und Krippe verzichtet. Das wäre ein Skandal. Es ist ganz klar: An Weihnachten gibt es keine Experimente. Jeder muss sich hier sofort zuhause wissen. Dazu gehört die altvertraute Botschaft des Lukasevangeliums, dessen Worte viele mitsprechen können: „Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. … Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“. Wir hören die Worte seit Kindertagen, aber sie berühren viele Menschen immer noch tief im Herzen berühren und rühren sie an, über ihr Leben nachzudenken und das Leid der anderen Menschen. Selbst wenn Sie sich jetzt ärgern über den Unfug, den der Pfarrer da gerade redet. Sie sind schnell wieder versöhnt durch die alten Lieder, die zu diesem Fest gehören und die letztlich ihren Platz gerade im Weihnachtsgottesdienst haben: „Stille Nacht, Heil'ge Nacht“ und im Hochamt am Weihnachtstag dann „O du fröhliche“. Natürlich schallen sie seit Wochen aus den Lautsprechern der Kaufhäuser, aber hier singen wir sie aus dem Herzen mit, so dass vielen immer noch die Tränen kommen, wenn in der dunklen Kirche jeder für sich und wir alle zusammen mal laut, mal ganz leise tönen: „Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht nur das traute hoch heilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar, schlaf in himmlischer Ruh'.“ Wir spüren es ganz tief: Hier ist der Ursprungsort einer Musik, die unsere Welt noch immer verzaubern kann. Eine Autorin hat gerade auf der Grundlage der verbindenden Kraft der Liturgie dieser Heiligen Nacht vorgeschlagen, den Weihnachtsgottesdienst zum UNESCO-Weltkulturerbe zu erklären. Ich teile die Meinung. Aber natürlich ist uns bewusst, dass wir kein Heimat- und Brauchtumsverein sind und dass die Pflege einer schönen Tradition nicht reicht zur Begründung für unsere Feier.
Sabine Rückert und Johanna Haberer, die Pfarrerstöchter, wie sie ihren Podcast in der ZEIT nennen, haben ihr Weihnachtsspezial unter die Überschrift gestellt: „Wie gut ist der Mensch?“. Sie stellen die These auf: „“Der Mensch ist banal und selbstsüchtig - so sieht es aus. Aber das stimmt nicht. Er steckt auch voller Wunder“. Dieses Wunder im Menschen offenbart sich heute, weil der Mensch sich anziehen lässt von einem ohnmächtigen, kleinen Kind. Wir sind sehr desillusioniert in einer Zeit, in der Populisten und Großredner die Massen in ihren Bann ziehen mit großspurigen Versprechen von besseren Zeiten und Polemiken gegen Fremde und Andersdenkende. Immer mehr setzt sich die bittere Erkenntnis durch, dass die Menschheit den Fanatikern und Showmastern hinterherläuft und Blender wie Trump, Putin, Orban u.v.a., die den starken Mann spielen, unbegrenzten Einfluss haben. Aber eben nicht heute Nacht! Heute gehören die Welt und die Menschheit einem kleinen, hilflosen Kind, das nur schreien und nicht große Reden halten kann. Dieses Kind wird einmal menschlich gesehen zu den großen Verlierern der Geschichte gehören, mit seiner Botschaft der Barmherzigkeit und Liebe scheitern und aufs Kreuz gelegt werden. Aber heute spricht er sie wieder zu uns und viele Menschen lassen sich noch immer davon anstecken. Sabine Rückert, die lange Chefredakteurin der ZEIT war, hat vor Kurzem eine sehr eigenwillige Stellungnahme über Gott und Kirche abgegeben. Während viele Menschen die Kirche ablehnen, aber weiterhin an Gott glauben, steht sie für eine diametral andere Einstellung: Sie kann nicht an den Gott der Bibel glauben, aber die Kirche ist für sie real und aus ihr würde sie niemals austreten, weil sich in ihr Menschen sammeln, die aus dem Geist Jesu einstehen für das Gute in der Welt. Sie schreibt die provokanten Worte: „Einen Gott gibt es für mich nicht. Aber es gibt Menschen, die an ihn glauben und deshalb versuchen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie wollen ihre Mitmenschen nicht beherrschen, sie wollen sie nicht manipulieren, sie wollen sich nicht selbst bereichern, sie wollen das Bruttosozialprodukt nicht steigern.“ (DIE ZEIT v. 14.12.2024)
Weihnachten sagt auch etwas über uns. Statistiken belegen, dass es bei den Gottesdienstbesuchern zum großen Teil um Menschen handelt, die sich Gedanken über das gesellschaftliche Zusammenleben macht. Wir sind nicht besser als andere, aber das mitunter so leichtsinnig hin geplapperte Vorurteil „An Weihnachten in der Kirche und den Rest des Jahres interessiert sie der Mitmensch nicht“ stimmt auf keinen Fall. Sabine Rückert bekennt daher: „Es ist Weihnachten, in Zeiten, die vielen Angst und Sorge bereiten. Wie gut, dass es tröstende Texte gibt, die davon erzählen, dass alles gut wird, wenn der Mensch dem Menschen ein Freund ist. Das Gute und Selbstlose wohnen in jedem.“ An Weihnachten werden wir gewahr, dass der Mensch dem anderen kein Wolf sein muss, sondern dass wir im Grunde unseres Herzens ausgerichtet sind auf das Gute.
Aber ist das nicht alles nur Augenwischerei? Sicher wäre es nur eine rührselige Romantik, wenn nicht das Entscheidende mitgedacht wird: Gott selbst hat uns in seinem Sohn eine Leiter gebaut, dass wir von seiner Art sein können, wie es Paulus sagt. Die Leiter in unserer Kirche erinnert mich auch an ein Wort des Heiligen Augustinus, der Christus als den „gradus interpositus“, die „Stufe, die dazwischen gestellt wurde“ bezeichnet hat. Wie schwierig ist es für uns, die höchsten Höhen zu erreichen, wenn wir uns strecken müssen. Gott baut uns eine Treppe, damit wir zu ihm kommen können. Gott wird Mensch, nicht der Mensch Gott, so hat es vor Kurzem der Patriarch von Konstantinopel Bartholomaios formuliert. Wir müssen nicht perfekt sein und wir brauchen auch keine perfekte Welt schaffen. Wir wissen, dass in dieser Nacht das Leid von Magdeburg nicht getilgt wird, die Not der Menschen in Gaza nicht beendet, der Frieden in der Ukraine nicht geschaffen wird, aber dennoch ist etwas anders in dieser Nacht. Heribert Prantl, den ich sehr schätze, hat in seiner letzten Kolumne gefragt, ob die weihnachtliche Botschaft vom Frieden auf Erden nicht die Heilige Gelbe Rübe ist, der wir nachlaufen wie einer barmherzigen Lüge, damit die Hoffnung nicht zugrunde geht? Und er gibt sich selbst die Antwort: „Weihnachten ist das Fest, an dem Gott sich klein, sich zu einem Kind macht, auf dass die Menschen verstehen, dass sie das Überwinden der von ihnen angerichteten Katastrophen nicht einfach Gott im Himmel überlassen können, der ja angeblich, wie es im Kirchenlied heißt, „alles so herrlich regieret“. So gesehen ist Weihnachten gar nicht possierlich. Es verlangt ziemlich viel: Es verlangt, vom Erzählen ins Handeln zu kommen. ... Wer noch ein wenig Weihnachtsglauben in sich hat, kann es so sehen und so sagen: Wenn Gott menschlich werden konnte, dann kann auch der Mensch menschlich werden. Das ist die Hoffnung auf die Zeitenwende.“ (SZ v. 22.12.2024).
So kann ich das Wort von der Stufe, die Gott dazwischen stellt, verstehen: Er baut uns keinen Fluchtweg aus dieser dunklen Welt, sondern gibt uns in Jesus eine Hilfe, selbst menschlicher zu werden, um mehr Gott ähnlich zu werden. Das ist das tiefste Geheimnis der Heiligen Nacht: In der Begegnung mit dem Kind, dem wahren Gott und wahren Menschen, entdecken wir unsere eigene Identität, unseren Ursprung von Gott her, dem wir trauen dürfen, dass wir nicht verloren und verlassen sind.
Schon einmal haben Menschen in der Heiligen Nacht ihr Zuhause verlassen und sich aufgemacht. Die Hirten, Menschen gewöhnt an die Dunkelheit und doch voller Sehnsucht nach dem Licht, nehmen uns mit an die Krippe und erklären uns, warum wir hier sind: Wir sehen die Welt in ihren Schatten und ihrer Zerbrechlichkeit. Das Zeichen der Rettung aber in der Krippe macht uns Mut, der Hoffnung mehr Raum zu geben als der Verzweiflung. Die Hirten bezeugen uns, dass sich in diesem Kind in jener Nacht von Bethlehem Himmel und Erde berühren, Gott und das Herz des Menschen, damit niemals mehr auf die Menschheit eine Nacht fällt, die so dunkel ist wie die, in der Christus geboren wurde. Der große Theologe Karl Rahner hat dieses Geheimnis der Heiligen Nacht in immer gültige Worte gefasst: Weihnacht sagt: Alle Zeit ist schon umfasst von der Ewigkeit, die selber Zeit wurde. Alle Tränen sind im Innersten schon versiegt, weil Gott selbst sie mitgeweint hat und schon aus seinen eigenen Augen wischte. Alle Hoffnung ist eigentlich schon Besitz, weil Gott schon von der Welt besessen ist. Die Nacht der Welt ist schon hell geworden.“ Für diese Botschaft lohnt es sich, die Nacht zu unterbrechen, hier an die Krippe zu kommen und die Menschwerdung Gottes zu feiern. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer
Christmette_2024_Warum_es_sinnvoll_ist_Weihnachten_in_der_Kirche_zu_feiern.pdf
4. Advent "Allein, aber nicht einsam"
Fühlen Sie sich einsam? Vielleicht nicht jetzt im Gottesdienst, aber in anderen Situationen? Haben Sie mitunter das Gefühl, nicht verstanden, nicht beachtet und allein gelassen zu sein, weil niemand mit Ihnen Ihre Sorgen und Freuden in der Intensität, die Sie sich wünschen, teilt. Vorsicht! Die Frage trifft nicht nur alleinstehende Menschen. Auch in einer Partnerschaft oder Familie kann man einsam sein. Das jedenfalls legt die Statistik nahe.
Es war ein erschreckende Nachricht zum Weihnachtsfest: Einsamkeit quält in unserem Land viel mehr Menschen als bisher angenommen. Vor einer Woche legte die Technikerkrankenkasse den Einsamkeitsbericht 2024 vor und kommt zu der erschütternden Erkenntnis: Jeder zweite Befragte ab 40 Jahre aufwärts gab an, häufig oder manchmal einsam zu sein. Bei jungen Menschen zwischen 18 und 39 Jahren waren es sogar zwei Drittel der Befragten. Der Studie zufolge sind jüngere Menschen nicht nur häufiger betroffen, sie leiden auch stärker unter dem Gefühl der Isolation. Nicht erst seit Corona-Zeiten wird Einsamkeit zur „Volkskrankheit“. Gesellschaftliche Trends, Hektik, die zunehmende Verschiebung des sozialen Lebens ins Internet befördern die Ausweitung des Gefühls, alleingelassen in der Welt zu stehen.
Verschärfend kommt hinzu, dass die meisten Menschen, die sich einsam fühlen, nicht darüber reden wollen, sondern ihr Leid verschweigen, in der Angst, dass ihnen eh nicht geholfen werden kann oder sie als nervig und wehleidig erscheinen. Mit vielerlei Ablenkungsstrategien, Sport, Lesen, Naschen versuchen Menschen dieser Not zu begegnen, ohne wirklich etwas ausrichten zu können. Einsamkeit stellt eine schwere Gefährdung für die Gesundheit dar, die sich in Schlafstörungen, Depressionen und fehlende Sozialkontakte äußert.
Stimmen die Zahlen, und das bezweifle ich nicht, dann ist das auch ein Thema in unserer Gottesdienstgemeinschaft. Wenn mehr als die Hälfte der Deutschen unter Einsamkeit leiden, dann sind wir keine Insel der Seligen.
Fühlen Sie sich manchmal einsam? Bin ich einsam? Ich gehöre ja als langsam älter werdenden Mensch über 50, der schon aus Berufsgründen alleinstehend lebt und auch noch einen Umzug hinter sich hat, zur Risikogruppe. Wenn ich zurückdenke, dann gab es immer wieder Momente der Einsamkeit. Eine Erfahrung am Anfang meiner Zeit als Priester hat sich aber besonders in die Erinnerung eingebrannt. Nach der Ausbildung und den ersten Monaten als Kaplan in Karlstadt stand im Herbst 1999 der Wechsel nach Bad Brückenau an. In Karlstadt war das Leben mit Pfarrer und Haushälterin sehr familiär, ähnlich zu den Erlebnissen in der eigenen Familie. In Bad Brückenau lebte ich zum ersten Mal allein in einer eigenen Wohnung. Mein Verhältnis zum Pfarrer war nicht schlecht, aber distanziert. Es war von vornherein klar, dass wir nicht miteinander Weihnachten feiern. Bisher war ich es gewohnt, dass der Heilige Abend feste Rituale hatte und von langen Gesprächen geprägt war. Im ersten Jahr als Priester saß ich nach der Nachmittagsmette in der Filiale alleine in meiner Wohnung, machte Toast und schlug die Zeit tot. Es war eine leere Zeit, voller Erinnerungen an andere Zeiten. Dieses Erlebnis würde ich als Einsamkeit bezeichnen. Später war das anders. In Bad Brückenau gehörte in den folgenden Jahren der Heilige Abend im Pfarrhaus der Jugend. Oft blieben die Jugendlichen länger als der Pfarrer wach war. In Lohr suchte ich bewusst das Alleinsein zwischen den Metten, schlug die Einladungen zum Essen am Heiligen Abend aus und schickte stattdessen lieber die Kapläne zu den Familien. Was ist Einsamkeit? Alleinsein reicht m.E. nicht aus. Mediziner und Psychologen werden das viel besser definieren können als ich, aber auf zwei Aspekte möchte ich genauer schauen: „Die eigene Zeit alleine nicht füllen können und das Gefühl haben, nicht beachten zu sein.“ Einsamkeit ist mit verschiedneen Ängsten verbunden, niemanden zu haben, der einen zuhört und mag, freie Zeit als bedrohlich zu empfinden und v.a. nicht die Beziehungen zu pflegen, die man eigentlich haben möchte. Tage, Stunden, Minuten werden dann zur bleiernen Last, die Menschen fragen lässt, ob andere ihre Situation wahrnehmen.
Wenn Zeit leer erscheint, sich hinzieht, ja zur Bedrohung und sinnlos totgeschlagen wird, dann macht sich das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit breit, das lähmt und das Denken fixiert auf den Wunsch nach Beziehung, der nicht erfüllt werden kann. Das ist eine furchtbare Erfahrung.
Aber es gilt auf das Gegenteil: Menschen können alleine sein und sind doch nicht einsam. Alleinstehende, die Strukturen und feste Rituale haben, erleben auch eine schwierige Zeit wie die Weihnachtstage als erfüllend. Ich muss gestehen, dass ich mich seit vielen Jahren darauf freue, die Stunden zwischen den Metten alleine zu verbringen und den ersten Teil des Weihnachtsoratoriums zu hören, mit dem für mich dann wirklich Weihnachten beginnt. Von verwitweten Menschen bekomme ich mitunter erzählt, wie klar sie die Weihnachtstage strukturieren mit Traditionen, Gottesdiensten, Konzerten, aber auch Spaziergängen und Begegnungen. Alleinstehende können oft gut mit Feiertagen und Festzeiten umgehen, auch wenn sie sie sie weite Strecken ohne andere Menschen verbringen. Zugleich habe ich den Eindruck, dass sie dabei oft unterschätzt werden. Wer allein ist, dem haftet von vornherein die Annahme an, dass er keine schönen Feiertage haben kann und froh ist, wenn sie vorüber sind. Das ist aber zu pauschal gedacht. Zum einen kann jemand auch in einer großen Familie sich einsam fühlen. Zum anderen können Alleinstehende gut ihre Tage planen und mit viel Freiheit gestalten. Eine alleinstehende Frau engagiert sich am Heiligen Abend in einem Seniorenzentrum, feiert mit Bewohnern eine Andacht, weil der Pfarrer keine Möglichkeit hat, und nimmt sich viel Zeit für Besuche auf den Zimmern. Eine Witwe hält sich strikt an den Zeitplan der Vorbereitungen, des Aufstellens der Krippe und an das Lesen des Weihnachtsevangelium, auch wenn niemand mehr zuhört. Für viele Alleinstehende wird gerade auch die Feier der Gottesdienste zum zentralen Element ihres Weihnachtsfestes.
Einsamkeit ist ein großes Problem, weil es sich mit Leere und dem Gefühl, unbeachtet zu sein, verbindet, aber Alleinsein ist nicht deckungsgleich mit Einsamkeit.
Das heutige Evangelium stellt uns die Begegnung von zwei Frauen vor, die eigentlich sehr alleine sind mit dem, was sie erlebt haben und was sie bewegt.
Wem sollen sie vom Besuch des Engels erzählen, vom Eingreifen Gottes, der der alten Elisabeth den Lebenswunsch erfüllt und Maria vor eine gewaltige Aufgabe stellt. Maria ist mit Josef verlobt, von dem wir im Lukasevangelium keinerlei Reaktion auf das Geschehene hören. Im Matthäusevangelium wird ihm sogar Zweifel und der Plan, sich zu trennen, unterstellt. Elisabeth lebt mit einem Mann, der die Sprache verloren hat, mit dem sie sich nicht mehr austauschen kann. Beide aber machen Erfahrungen, die sie nicht einfach mit den Nachbarinnen besprechen können. Wer kann verstehen, was geschehen ist? Sie stehen alleine da mit dem Eingreifen Gottes in ihrem Leben. Aber sie ziehen sich nicht zurück. Maria macht sich auf den beschwerlichen Weg, um Elisabeth zu helfen, wohl auch weil sie ahnt, dass sie beide etwas verbindet. Und Elisabeth schwelgt nicht einfach in ihrem Glück, doch noch Mutter zu werden, sondern nimmt wahr, was an Maria geschehen ist. Die beiden Frauen, wohl verwandt, aber allein durch ihren Altersunterschied in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, durchbrechen die Mauer der Isolation und freuen sich am Glück der anderen. Es kommt zu einem Treffen, das wahre Begegnung ist, Tiefgang hat und zur Ermutigung wird.
Das Zusammentreffen Mariens mit Elisabeth ist nicht nur auf einer persönlichen Ebene eine beglückende Begegnung. Es gibt auch einen Hinweis, was Kirche sein soll.
Gerade Gemeinde kann der Raum sein, in dem Menschen mit ihren ganz eigenen Lebens- und Glaubenserfahrungen zum Austausch kommen und einander bereichern. Wir feiern nicht nur das Leben, wir sollen Ort sein, an dem gelingendes Leben möglich wird. Das geschieht durch das Wahrnehmen des anderen und durch Interesse und Respekt. So kann auch ein Alleinstehender anderen Tipps geben für ein gelungenes Weihnachtsfest. Menschen, die unter der Last des Drucks, ein perfektes Weihnachtsfest für ihre Familie zu schaffen, können so auch Entlastung finden. Das geschieht dann, wenn wir bewusst einander als Gleichgesinnte wahrnehmen.
An Weihnachten sind viele Menschen allein, aber sie müssen nicht einsam sein. Durch Gottesdienste, Veranstaltungen wie die gemeinsame Feier von Alleinstehende und v.a. Wahrnehmung eine Hilfe zu bieten, ist Dienst einer Gemeinde an der Menschwerdung. Die Feier des Kommens unseres Herrn in das Leben des Menschen verpflichtet uns auch als seine Gemeinde, gegen Vereinsamung und das Gefühl von Sinnlosigkeit uns einzusetzen.
Wenn wir hier zusammenkommen als glaubende Menschen, dann orientieren wir uns am Ideal der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth. Wir haben Weihnachten dann gut vorbereitet, wenn Menschen hier einander sagen können: Selig ist, wer an Gott glaubt. Glücklich und weihnachtlich gestimmt, wer weiß, dass Gott in ihm selbst in der Heiligen Nacht Fleisch annehmen will, so dass er nie einsam sein muss, sondern weiß: Gott ist der Gott mit mir. Amen. Sven Johannsen, Pfr.
3. Advent "Was sollen wir tun? Standhaft bleiben!"
Predigt 3. Sonntag C – 15.12.2024
„Was sollen wir also tun? Bleib beim Guten, das du erkannt hast!“
Liebe Schwestern und Brüder
2034 – Wieder eine WM, bei der man sich das Zuschauen sparen kann. In einer an nordkoreanische Huldigungszeremonien erinnernden Entscheidung hat die FIFA am vergangenen Mittwoch die Vergabe der WM 2034 an Saudi-Arabien allein durch Beifallsbekundungen für den allmächtigen FIFA-Boss Gianni Infantino abgesegnet. Während in Saudi-Arabien Feuerwerke den Nachthimmel erleuchteten, stöhnten Medien, Politik und Menschrechtsorganisationen erschreckt auf. Nach der Skandal-WM 2022 in Katar geht es 2034 wieder in die Wüste. „Amnesty Internation“ stellt in einer Mitteilung fest, die „Menschenrechts-politik des Verbandes entpuppe sich als Täuschung“ und sei eine „Farce“. Saudi-Arabien nimmt den neunletzten Platz von 186 Nationen auf dem Menschenrechtsindex des unabhängigen Forschungs-instituts V-Dem ein. Niemand hat von Infantino und seinem gewissenlosen Millionärsclub etwas anderes erwartet. Aber was für viele Menschen in unserem Land ein wirkliches Ärgernis darstellt, ist das Verhalten des DFB, immerhin der größte Sportverband der Welt und finanziert durch Mitgliedsbeiträge und viele Millionen Euro, die vom deutschen Staat kommen. Wenige Tage vor der Entscheidung gab der DFB-Präsident Bernd Neuendorf zu, dass man beim DFB sehr wohl wisse, dass die Entscheidung falsch ist, aber dennoch für die Vergabe stimmen werde. Man soll keine Pauschalurteile fällen, aber mir fällt dazu nur das Wort „charakterlos“ ein. Der deutsche Fußballverband übernimmt damit auch die Mitverantwortung dafür, dass wahrscheinlich wie in Katar wieder Wanderarbeiter sterben werden. Infantino und seine Truppe interessiert das nicht, aber von deutschen Funktionären kann man eine andere Einstellung erwarten, als eine resignierte Begründung: „Widerstand bringt ja nichts. Was sollen wir denn tun?“
„Was sollen wir tun?“ – während deutsche Sportfunktionäre sich selbst demaskieren als „verantwortungslose Apparatschik“ und diese Frage nur rhetorisch stellen, um sich zu rechtfertigen, geht es den Menschen, die zu Johannes kommen, wirklich um eine Anweisung für richtiges Handeln und Verhalten.
Wer kommt an den Jordanstrand?
Lukas beschreibt die Menschen, die sich auf den Weg zu Johannes machen, nur sehr wage als „Volksscharen“, aber wir können durch die Nennung der zwei Stände „Zöllner und Soldaten“ ahnen, dass es nicht die Superreichen, Priester und führenden Köpfe des Volkes sind, die da am Strand stehen und sich von Johannes harsche Worte anhören müssen: „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Zorngericht entrinnen könnt? Bringt Früchte hervor, die eure Umkehr zeigen“. Es werden auch nicht die Ärmsten des Volkes sein. Welchen Sinn sollte für sie die Aufforderung zum Teilen machen, wenn der einzige Besitz, den sie haben, die Kleider auf dem Leib sind. Es könnten wohl eher Menschen sein, die uns sehr ähnlich sind, nicht reich, nicht arm, froh, ihr Auskommen zu haben und doch auch mit dem Wunsch, hin und wieder sich etwas leisten zu können. V.a. aber sind es Menschen, die spüren, dass eine große Veränderung in der Luft liegt, und die verunsichert sind im Angesicht der vielen Umbrüche, die sich politisch, gesellschaftlich und religiös vollziehen. Die Römer haben ihre Herrschaft etabliert und dennoch drängen Rebellengruppen zum Umsturz. Es steht die ständige Angst vor Gewalt im Raum. Herodes bricht das rein jüdisch geprägte Milieu auf und öffnet Israel für römische Kultur mit Theater, Sportstätten und globaler Vernetzung. Die Priester kollaborieren mit den Herrschenden und haben ihre religiöse Führungsrolle verloren. Andere Gruppen, die Pharisäer, aber auch Fundamentalisten, füllen die Lücke und verändern die klassischen religiösen Hierarchien und Vorstellungen. Es ist eine Zeit des Umbruchs, in viele Menschen ahnen, dass nichts so bleiben wird, wie es jetzt ist. Die, die den Status quo beschwören, sind nicht am Jordan, sondern Menschen, die sich bewusst sind, dass nicht nur Politiker und Religionsführer, sondern sie selbst gefordert sind, aktiv zu werden. Das ähnelt unserer Zeit. Wir hören von Rezession in der Wirtschaft, nationalistischen Polarisierungen in der Politik, Traditionsabbrüche in der Gesellschaft und dem Glaubensschwund in der Religion. Der Traum, dass irgendwann alles wieder so wie früher sein wird, ist utopisch. Aber wir können auch nicht die Hände in den Schoß legen, abwarten und von Politikern, Bischöfen und Experte erwarten, dass sie alles richten werden. Ebenso hilft es, Sündenböcke zu suchen, Politiker, den Papst, Ausländer, Wirtschaftsflüchtlinge, andere Religionen und zu glauben, dass wir durch Abgrenzung über die Zeit retten, was schon längst im Umbruch ist. Werte wie Familie, Verlässlichkeit, Anstand und Respekt werden nicht untergehen, aber sie werden sich verändern. Dem gilt es sich zu stellen und sich neu zu positionieren. Wenn wir an den Jordanstrand gehen, dann mit der Unsicherheit und Ungewissheit, die einen unruhig macht, weil wir noch nicht das Neue sehen können, aber mit der Überzeugung, dass wir nicht einfach abwarten und Verantwortung abschieben können.
Wen fragen die Menschen?
Ziel sind nicht die Priester, Beamten und Experten, sondern ein eher kauziger Wüstenbewohner in einem einsamen Tal eines Seitenarms des Jordantals. Die Vertreter der Oberschicht haben zur Zeit Jesu jegliches Vertrauen bei den Menschen verloren, weil sie offensichtlich nur ihren eigenen Vorteil suchen. Ihr Ansprechpartner ist der Täufer Johannes, der mit seinen drastischen Mahnungen zugleich abschreckt und anzieht. Heute wissen wir, dass er sich in seiner Erwartung fundamental getäuscht hat. Er kündigt den Gesandten Gottes an, der nach ihm kommt und ein gnadenloses Gericht über die Welt halten wird. Gekommen ist Jesus Christus, der ganz anders war, so dass Johannes aus dem Gefängnis verunsichert fragen muss: „Bist du der, der kommen soll?“ Jesu Verkündigung ist Zärtlichkeit, nicht Zorn. Warum? Wäre es nicht leichter, wenn Jesus als Messias mit eiserner Faust dreingeschlagen hätte? Gott weiß, dass Menschen sich unter Druck nie verändern, sondern nur dem Zwang beugen. Werde ich durch Drohung zu einem neuen Handeln gedrängt, gebe ich dem Druck nach, stimme aber nicht innerlich zu. Sobald der Druck nachlässt, das Gericht also ausbleibt, falle ich in die alten Muster zurück. Jesus aber will Veränderung, die aus dem Inneren kommt. Zu ihr ist der Mensch bereit, wenn er spürt, dass ihm Wohlwollen und Zuneigung geschenkt werden. Die Taufe durch den Heiligen Geist, also die Erfahrung der barmherzigen Liebe Gottes, kann im Menschen eine innere Wandlung bewirken. Eine Theologin hat klug festgestellt: „Nur geliebte Menschen reifen zu liebenden Menschen heran.“ (Anke Lechtenberg; Die Sonntagsevangelien im Lesejahr C). Johannes predigt nicht nur die Veränderung, er gibt den Menschen die Möglichkeit, aktiv zu werden und durch die Taufe im Jordan ein Zeichen zu setzen für ihre Bereitschaft zur Umkehr. Sie spüren bei ihm, Veränderung ist nicht reine Theorie, sie braucht einen ersten Schritt, der ermutigt und weiterführt. Den können sie mit Johannes setzen. Heute ist es an der Kirche, die sich wie Johannes so oft geirrt hat, Menschen zu helfen, eine neue Hinwendung zu Gott bewusst zu vollziehen. Wir sind der Raum, in dem Gott und Mensch sich begegnen können. Der Mensch weiß selbst, was er tun soll. Er braucht in der Kirche eine Begleiterin, die hilft, aus dem guten Willen eine neue Haltung werden zu lassen. Dafür braucht es eine Gemeinde, die Vertrauen weckt, dass Menschen willkommen sind, gerade wenn sie nach neuer Orientierung suchen.
„Was sollen wir also tun?“, fragen die Menschen am Jordanstrand und geben uns die richtige Blickrichtung vor. Viele Zeitgenossen, und nur zu oft auch wir, wissen ganz genau, was andere tun sollen, v.a. Politiker, in der Meinung, dass sie mit ein wenig gutem Willen alle Probleme lösen könnten. Den Zauberstab für die Welt gibt es nicht. Die Zeit ist immer zwiespältig und nie nur in Schwarz-Weiß-Kategorien verstehbar, das macht die unklare Situation in Syrien im Augenblick deutlich. Zu oft wissen wir, was andere tun sollten, und zu selten stellen wir die entscheidende Frage, was wir tun sollten. Kardinal Schönborn hat in einer klugen Betrachtung zum heutigen Sonntag festgehalten: „Es ist an der Zeit, uns selbst die Frage zu stellen: „Was sollen wir also tun? So ernst die Worte des Johannes waren, so einfach sind seine Antworten: „Du kannst etwas tun“ Es ist gar nicht so kompliziert. Du kannst nicht die ganze Welt verändern. Aber du kannst dein Verhalten ändern. Und damit ein kleines Stück der Welt.“
Die Antworten, die Johannes den Fragenden gibt, klingen einfach: Schau auf die Not des anderen Menschen, teile, wenn du zu viel hast, und ziehe niemanden über den Tisch. Wer würde diesem Rat nicht zustimmen. Seine Schwierigkeit liegt nicht in der Anforderung des Handelns, sondern in der eigenen Wahrnehmung meiner Möglichkeiten: Habe ich zu viel? Geht es mir besser als anderen Menschen? Gelten alle strengen Vorschriften auch für mich? Oder kenne ich nicht unzählige Begründungen, warum in meinem Fall manche Regeln so nicht greifen, die andere doch streng binden? Letztlich ist das Schwerste, das Johannes heute von uns fordert, die Standhaftigkeit, jene Haltung, die mich das, was ich als richtig erkannt habe, auch konsequent tun lässt, und mich davor bewahrt, mir Ausreden zu suchen, warum ich bei der Steuer betrügen darf, weil das ja alle machen, warum ich mich vor sozialen Engagement drücken kann, weil ich ja schon so viele Aufgaben habe, warum ich als Unternehmer soziale Verantwortung zeigen soll, wenn doch die seelenlosen Manager in den Großunternehmen einem gnadenlosen Haifisch-Kapitalismus huldigen und mit dem Schicksal von Menschen spielen, wenn es der Steigerung der Rendite dient.
Veränderung ist das Bemühen um eine konsequente Übereinstimmung von Reden und Tun.
2022 war es zugegeben leicht, auf die Spiele der deutschen Mannschaft in Katar zu verzichten. Nach einer katastrophalen Gruppenphase war die deutsche Mannschaft abgereist, der Advent gerettet und die folgenden Spiele nicht mehr von Interesse. Es wird spannend, ob dieser Verzicht dann durchzuhalten ist, wenn die deutsche Nationalmannschaft 2034 ins Finale einzieht. Auch dann muss sich Standfestigkeit bewähren. Der gute Wille ist da. Hoffentlich zeitigt er das rechte Verhalten. Amen. Sven Johannsen, Pfr.
2. Advent Jugendgottesdienst "Was gibt Hoffnung in dunkler Zeit?"
Predigt Jugendgottesdienst 7.12.2024
„Was gibt Hoffnung?“
Ihr habt uns gewaltig überrascht!
Eigentlich waren wir, die Älteren, uns mit allen Experten und Medien einig: Ihr, die Jugendlichen, die Generation Z, die Zoomer, also die schon mit Internet und sozialen Netzwerken Geborenen zwischen 12 und 30, seid alle ein Fall für Psychologen und Therapeuten: Von Corona so geschädigt, dass ihr ziemlich hoffnungslose Fälle seid. Außerdem, so weiß es der TV-Moderator Markus Lanz, selbst Vater von drei Kindern, seid ihr „eine Hafermilchgesellschaft, so eine Guavendicksaft-Truppe, die wirklich die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist“. Und in ihrem gemeinsamen Podcast vom August 2023 springt ihm der omnipräsente Alltags-Philosoph Richard David Precht zur Seite und meint, dass ihr nie richtige Arbeit kennengelernt habt und deswegen, so sein Schluss, gingen "alle jungen Menschen ins Leben (...), unter der Vorstellung, 'das Leben ist ein Wunschkonzert'“. Natürlich gab es heftige Kritik über ein so pauschales Urteil, aber in Umfragen auf verschiedenen Internetseiten haben die beiden Zustimmung bis zu über 80 Prozent bekommen, wahrscheinlich überwiegend aus meiner Generation. Also haben wir eine klare Vorstellung von euch: „verwöhnt“, „faul“ und „vergnügungssüchtig“. Mit euch ist nicht viel anzufangen, weil ihr keine Hoffnung für die Zukunft habt.
Und dann kommt im Oktober die neue Shell-Jugendstudie und wirbelt unsere schön geordnete Schubkasten-Welt an Vorurteilen durcheinander. Alle fünf Jahre legen die Forscher Erkenntnisse vor über die Entwicklung der Jugend, ihre Vorstellungen, Ziele und Lebensentwürfe. Die waren immer sehr ausgewogen, aber brachten unsere liebgewordenen Ansichten über die Jungend nicht wirklich ins Wanken. Das ist jetzt anders. Seit Herbst wissen wir: „Die heutige Jugend ist pragmatisch, weltoffen und hat ein sehr positives Zukunftsbild“ (Die ZEIT v. 15.10.2024). Was soll das jetzt?
Wir hatten doch schon Mitleid und Verständnis: Corona hat euch die Kindheit und Jugend so schwer gemacht, dass ihr einfach nicht zu motivieren seid. Die Erfahrung, euren 12. Geburtstag allein vor dem Bildschirmim Kreis eurer digitalen Freunde, zu feiern, hat euch so geprägt, dass ihr alles Vertrauen in die Erwachsenen, die Politik und die Zukunft verloren habt. Und jetzt? Ihr habt ein sehr positives Zukunftsbild!
Die Forscher erklären diese scheinbar widersinnige Wahrnehmung gerade mit der Corona-Krise. Professor Mathias Albert, verantwortlich für die Studie, erklärt das Paradoxon so: „Die für mich plausibelste Interpretation ist: Die Jugendlichen haben zwar Lockdowns erlebt und konnten ihre Freunde über längere Zeit nicht sehen, zudem haben die Bildungseinrichtungen keine brillante Figur abgegeben während der Pandemie. Aber das ist trotzdem die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg, die live erlebt, dass die Gesellschaft in relativ überschaubarer Zeit durch eine Megakrise gekommen ist.“ (s.o. Die Zeit vom 15.10.2024).
Alles gut, die Jugend ist gerettet. Dann könnt ihr ja jetzt die Probleme der Zukunft angehen und die Welt retten. „Ihr schafft das!“
Ganz so einfach wird das nicht. Die positive Sicht in die Zukunft kann nicht über die große Sorge der Jugend hinwegtäuschen, die sich mit der Frage verbindet: „Wie sollen wir das schaffen?“ Natürlich kann das nur gelingen, wenn ihr Hoffnung habt. Aber die Hoffnung hat ein ähnlich schlechtes Image wie die Jugend: Sie gilt als naiv und verkennt den Ernst der Situation. Aber Hoffnungslosigkeit und Pessimismus sind keine besseren Alternativen. Die Schwarzseher machen es sich zu leicht. Nur wer Hoffnung hat, zeigt auch Mut. Denn die Hoffnung gibt nicht auf.
Ihr habt euch für diesen Gottesdienst das Thema ausgesucht: „Was gibt uns Hoffnung in dunkler Zeit?“ Manches habt ihr uns schon vorgetragen und eure Impulse werden nachwirken. Mir macht Hoffnung, dass ich den Großteil meines Lebens schon hinter mir habe und die richtigen Katastrophen erst nach mir geschehen werden. Das ist für euch keine realistische Hoffnung.
Im Vorfeld des heutigen Gottesdienstes bin ich auf das Buch einer jungen Frau, Amelie Marie Weber, gestoßen. Sie ist noch keine dreißig Jahre alt, aber als Journalistin viel in den sozialen Medien unterwegs, um mit jungen Menschen über Leben und Politik zu reden, und wichtige Themen anzusprechen, die die o.g. Generation bewegt. Für ihre Generation beschreibt sie stellvertretend die eigene Situation so: „Wir sind noch keine 30 Jahre alt und haben bereits drei Jahre Pandemie hinter uns, einen Krieg in Europa ausbrechen sehen und die Gefahren der Klimakrise begriffen. In Deutschland gibt es rund elf Millionen Menschen, die zwischen 18 und 30 Jahren alt sind. Wir alle werden im Dauerkrisenmodus erwachsen. Keine andere Altersgruppe fühlt sich durch die aktuellen Krisen so stark belastet.“ (Amelie Marie Weber, Generation Hoffnung: Wie junge Menschen zwischen Klimawandel, Krieg und Selfie-Sucht die Zukunft gestalten") Sie wollte ihrem Buch erst den Titel „Generation Krise“ geben, hat sich aber dann umentschieden und es „Generation Hoffnung“ überschrieben, weil sie aus allen Gespräche mit jungen, im Klimaschutz, in der Bildungspolitik, der Arbeitswelt, Friedensarbeit und Geschlechtergerechtigkeit engagierten Menschen, die sie in diesem Buch sammelt, immer wieder die Leidenschaft heraushört, dass es lohnt, sich einzusetzen und etwas zu bewegen. Sie baut auf ein Zitat des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, der sagte: „Was mir Hoffnung gibt, ist die nächste Generation. Wenn ich um die Welt reise, stelle ich fest, dass diese Generation junger Menschen intelligent, idealistisch und innovativ ist. Ich möchte euch sagen, dass es eine freudige Verantwortung ist. Es ist ein großes Privileg, auf diese Welt einzuwirken und sie zu verbessern."
Intelligenz, Idealismus, Innovationsgeist – ich kann Barack Obama zustimmen. Ich glaube, dass sie drei wesentliche Charakteristika eurer Generation sind, die den Grund für Hoffnung legen. Wir, die Eltern-Generation, sind nicht dümmer als ihr, aber ihr wachst mit neuen Medien und KI auf und wisst sie besser zu nützen als wir. Wenn ihr eure Zeit nicht nur auf TikTok vergeudet, sondern die neuen weltweiten Informationsmöglichkeiten nutzt, um Zusammenhänge zu verstehen, dann werdet ihr zu neuen Erkenntnissen kommen, die der Welt und den Menschen dienen.
In diesem Kontext sehe ich auch den Idealismus. Wer Hoffnung hat, kann nicht wegschauen. Das geht nicht. Ich bewundere junge Menschen, die etwas wagen: für einige Monate nach Afrika gehen und in einer Schule für Waisenkinder arbeiten, oder in Projekten im Amazonas mithelfen, die ein Umdenken im Umgang mit der Schöpfung zum Ziel haben.
Wir regen uns manchmal auf über „verwöhnte, jugendliche Spinner“, die mit ungewöhnlichen Methoden auf die drängenden Probleme der Welt aufmerksam machen. Nicht jede Methode ist in meinen Augen zulässig wie wir es in der Debatte um die „letzte Generation“ so leidenschaftlich diskutieren, aber Jugend muss den Mut haben, neue Wege zu gehen, um die Welt aus den alten Gleisen zu holen. Sonst wird sich nie etwas ändern.
Ich möchte noch ein viertes Element dazugeben: Die Verantwortung, die aus dem Glauben kommt. Leben ist Geschenk, jedes Leben, das des Menschen und der ganzen Schöpfung. Es ist nicht in meiner Verfügungsmacht, über Leben und Tod zu entscheiden. Wir sind immer im Dienst des Lebens. Vielleicht kann die Verantwortung, der sich junge Menschen stellen, auch ein Hinweis sein, dass es eben einen größeren Herren gibt als den Menschen.
Was mir Hoffnung macht in dunkler Zeit?
Für mich findet sich eine Antwort in der Einstellung, die die Autorin Amelie Marie Weber formuliert: “Wir werden in einer wahrlich schwierigen Zeit erwachsen. Doch den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Option. Die gegenwärtigen Krisen erfordern Mut und Tatkraft, um zu Chancen zu wer (s.o.)
Und der langjährige Chefredakteur der SZ, Heribert Prantl, hat in seinem Newsletter „Prantls Blick“ treffend festgehalten: “Zukunft kommt nicht einfach – es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt: je nachdem, welchen Weg ein Mensch, welchen Weg eine Gesellschaft wählt, welche Entscheidungen die Menschen und die Staaten treffen, welche Richtung Wirtschaft und Gesellschaft einschlagen. Nicht die Menschen müssen zukunftsfähig werden. Die Zukunft muss menschenfähig und menschenwürdig werden.“( Der Glaube an eine gute Zukunft | Heribert Prantl)
Tatsächlich ist die Hoffnungslosigkeit keine Option, darum habe ich im Angesicht der Generation Z wie „Zukunft“ Hoffnung in dunkler Zeit. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer
Christkönig 2024 Lesejahr B "Der König im Dreck - Zeuge der Wahrheit"
Predigt Christkönig 2024 -„Der König im Dreck - Zeuge der Wahrheit“
Liebe Schwestern und Brüder,
ein König mit Dreck beworfen - die Bilder gingen Anfang des Monats um die Welt: Der spanische König Felipe VI. besucht mit seiner Ehefrau Letizia, dem spanischen Regierungschef Pedro Sanchez und dem Regionalpräsidenten Carlos Mazon das Überschwemmungsgebiet in der Region Valencia. Es soll ein royales Zeichen der Solidarität und des Trostes werden, aber es kommt ganz anders: In einer besonders stark betroffenen Gemeinde wird das Königspaar und die Politiker als „Mörder“ beschimpft und mit Schlamm, Dreck und Steinen beworfen. Die Wut der Menschen, die sich in der Katastrophe von Politik und staatlichen Einsatzkräften im Stich gelassen fühlen, entlädt sich gegen den Monarchen und die mitgereisten Politiker so heftig, dass das königliche Ehepaar mit Schlamm beschmutzt den Besuch abbrechen und nach Madrid zurückkehren muss. Ein König von seinem eigenen Volk mit Dreck beworfen - in früheren Zeiten wären die Täter für diese Majestätsbeleidigung gehängt, gerädert und gevierteilt worden. Der spanische König aber zeigte Verständnis für die Wut der Mensch, die in der Region Valencia um fast 230 im Unwetter umgekommene Angehörige trauern und noch immer vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Der König kehrte sogar einige Tage später in der Uniform des Oberbefehlshaber des Militärs in das Krisengebiet zurück, um zu zeigen, dass er sich einsetzt für eine bessere Koordination der Hilfe für die betroffenen Menschen. Am Dienstag der vergangenen Woche schließlich setze er zusammen mit der Königin den Besuch in den Dörfern und Städten rund um Valencia fort und wurde herzlich empfangen und gefeiert. Der König zeigte Größe und duckte sich nicht weg.
Dennoch bleiben die Bilder vom Eklat vor drei Wochen präsent. Sie sind für mich eine treffendes Beschreibung, wie wir heute Monarchen und Könige sehen. Gerade das spanische Königshaus, das seine Stellung dem politischen Willen des ehemaligen Diktators Franco verdankt, der den Vater des heutigen Königs, Juan Carlos, als seinen Erben eingesetzt hatte, weiß, dass sein Überleben allein von der Zustimmung des Volkes abhängt. Ähnliches gilt auch für die noch bestehenden Königshäuser in Europa: Solange sie als Identifikationsgrößen für die Menschen in ihren Ländern dienen, ist ihr Bestand gesichert. In vielen Ländern wächst aber die Kritik, ob man sich angesichts knapper Kassen noch eine königliche Familie als Maskottchen halten will. Die verstorbene Queen hat immer wieder betont, dass sie ihre Aufgabe darin sieht, Garant der Einheit in einem Volk mit vielen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen zu sein. Nur in dieser Funktion, nicht in der Ausübung einer politischen Macht, sah sie die Überlebensgarantie der „königlichen Firma“.
Diese Sicht von Königtum ist weit von der Vorstellung des biblischen Menschen entfernt und gründet doch in der Selbstaussage Jesu über sein „Königssein“ im heutigen Evangelium.
Für Pilatus ist die Anklage, dass sich jemand zum König von Israel erhoben hat, ein todeswürdiges Verbrechen, denn dieser Anspruch stellt die Macht des Kaisers in Rom in Frage. Er braucht das Geständnis Jesu, um den Prozess zu einem schnellen Ende zu bringen und den Störenfried zu beseitigen. Das Johannes-Evangelium zeigt Jesus aber in seinem Passionsbericht nicht als Opfer von Intrigen und unlauteren Machenschaften. Gerade im Verhör vor Pilatus steht vor uns ein hoheitlicher und souveräner Christus, der alles im voraus weiß und den Lauf der Dinge steuert. Vordergründig liegt die Macht des Handels beim römischen Statthalter, aber als der wahrhaft Mächtige erweist sich in seinem Handeln und Reden der Angeklagte, der deutlich macht, dass er ein König ist, aber seine Königtum nicht dieser Weltordnung von Gewalt und Machtmissbrauch unterliegt. Dieser König wird, so will es unsere Tradition, dreimal auf seinem Weg zu seiner Inthronisation am Kreuz fallen und im Staub der Straßen Jerusalems liegen. Josef Ratzinger hat in seinen Meditationen zum Karfreitag, die er im Jahr vor seiner Wahl zum Papst für den Kreuzweg im Kolosseum verfasste, diesen dreimaligen Fall des Herrn als die Angriffe auf die Würde und den Schutz des Lebens und die vielen Verbrechen in der Kirche gedeutet, also als Tiefpunkte der Menschheits- und Kirchengeschichte. Das Leben und der Glaube an Gott als die königlichen Tugenden werden auch von Mitarbeitern der Kirche in den Schmutz getreten. Dennoch verlieren sie nicht ihre Würde und Autorität, so der Papst.
Das Königtum Jesu beweist sich nicht in politischen Aktionen, wie sie Pilatus sehen will, sondern in einer königlichen Haltung, die Jesus am Ende des Evangeliums bekennt: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“
Jesus erhebt keine politischen Machtansprüche und führt keine äußeren Erkennungszeichen für sein Königtum an. Weder der Verweis auf die Abstammung aus dem Hause Davids, noch der Verweis auf die Größe seiner Anhängerschaft werden zu Belegen seines Anspruchs auf den Königstitel. Allein das konsequente Bekenntnis für die Wahrheit legitimiert ihn als Herrn über alle irdischen Machthaber. Königliches Erkennungsmerkmal des Christus ist das Zeugnis für die Wahrheit. An der Wahrheit wird Pilatus scheitern und versuchen, ihre Bedeutung herunterzuspielen, wenn er direkt im Anschluss an das heutige Evangelium fragt: „Was ist Wahrheit?“ Gibt es überhaupt eine Wahrheit?
Gerade in einer Zeit, in der scheinbar jede politische Richtung, jede religiöse Einstellung und jede gesellschaftliche Weltanschauung eigene Wahrheiten formuliert, ist diese Frage virulent. Es wird immer schwieriger, in unserer Zeit zu einem gemeinsamen Verständnis von Wahrheit zu finden. Meinungen und Argumente sind so abgeschlossen, dass ein offener Austausch zwischen verschiedenen Ansichten gar nicht mehr möglich ist. Ich muss zugeben, dass ich gerade im kirchlichen Bereich mitunter mit Menschen im Gespräch kommen, mit denen ich nicht der gleichen Meinung bin, aber mir schwertue, etwas auf ihre Argumente zu erwidern, weil wir auf völlig verschiedenen Ebenen aneinander vorbeireden. Im Augenblick geht es in vielen kirchlichen und gesellschaftlichen Gruppen um den Anspruch, Recht zu haben und die Wahrheit zu besitzen, die dann nie mehr ist als eine Teilwahrheit einer bestimmten Parteiung. Das lässt die Frage aufkommen, ob es überhaupt eine letzte Wahrheit geben kann, für die Christus im Evangelium Zeugnis gibt? In Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ wird der kluge Franziskaner William seinem Schüler Adson die Mahnung mitgeben: „Die einzige Wahrheit heißt: lernen, die sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.“ Es ist schwierig für den Menschen, eine letzte Wahrheit zu erkennen. und völlig unmöglich, sie zu besitzen, so dass wir sie als Waffe gegen Menschen, die anders denken und leben, ins Feld führen könnten. Ein falsch verstandener Anspruch auf den Besitz von Wahrheit wird zur Gefahrenquelle für Fanatismus und Intoleranz. Aber dennoch bin ich mit Papst Benedikt überzeugt, dass es eine letzte Wahrheit geben muss. Sie kann nicht das Ergebnis unseres Denkens und unserer Lehren sein, sonst würde sie Gott zu einem Götzen machen. Papst Benedikt hat immer wieder betont, dass das Leben nicht einfacher wird, ja vielmehr sinnloser würde ohne zumindest die Ahnung um eine letzte Wahrheit, die alles erklärt und verständlich macht. Ich kann Wahrheit nicht machen, erklären oder definieren. Ich bekomme Wahrheit geschenkt von einem Größeren. Für Papst Benedikt war es ein roter Faden seines Denkens, dass es eine letzte Wahrheit geben muss, die uns bindet,weil sie von Gott kommt. Es ging dabei nicht um Fundamentalismus und Abwertung anderer Glaubensrichtungen und Religionen. Vielmehr geht es um die absolute Bedeutung der Begegnung mit Gott. Wahrheit ist nicht das, was der Mensch über Gott formuliert, sondern das, was Gott von sich aus über sein Wesen offenbart: Gott zeigt sich dem Menschen und sagt sich ihm als Liebe zu. Das zu erfahren, setzt beim Menschen die Haltung der Wahrhaftigkeit voraus, eine persönliche Beziehung zum lebendigen Gott, die ihn durch und durch prägt.
Ich bin überzeugt, dass die Wahrhaftigkeit der königlichen Würde Jesu am meisten entspricht: Er lebt aus der engen Verbindung mit dem Vater, der sich ihm offenbart, und er lehrt nicht nur die Menschen entsprechend, sondern lebt das, was er vom Vater erfahren hat, nämlich Treue und Aufrichtigkeit. Wir erliegen im Alltag schnell der Versuchung, uns aus bestimmten Situationen herauszureden, unsere Wahrheit zu formulieren, um unser Handeln zu rechtfertigen und anderen die Schuld für Fehler zuzuschieben. Der Mensch kennt die Neigung, den einfachen Weg zu gehen und Verantwortung für sein Handeln abzugeben. Im Verhör mit Pilatus und am Kreuz aber tritt uns die Wahrhaftigkeit entgegen, die uns mahnt: Die Wahrheit siegt über die Belanglosigkeit, die Ausreden und Kompromisse. Es gibt eine Wahrheit, die sich nicht verbiegen lässt, die man zwar mundtot machen wollte am Kreuz, aber damit zugleich sichtbar erhöht hat als Banner Gottes über dieser Welt steht, scheinbar besiegt und doch festgenagelt für alle Zeiten, unumstößlich, kein Fähnchen im Wind.
Gerade als Kirche fällt uns die Aufgabe zu, einzutreten für die Wahrheit, die man nicht machen kann, sondern die uns von Gott geschenkt ist, und selbst wahrhaftig zu sein, also nicht nur die frohe Botschaft zu verkünden, sondern bewusst uns an die Seite derer zu stellen, für die sie bestimmt ist. Wenn wir das Reich Gottes für die Armen und Entrechteten verkünden, dann kann das innerste Leitmotiv der Kirche nicht Streben nach Macht und Karriere, die Sorge um Finanzen und Einfluss sein, sondern nur die Frage: Was will Gott von uns? Nicht äußerer Prunk und Lobbyismus in der Politik sichern den Fortbestand der Kirche, sondern allein ihre Ausrichtung an der Botschaft des Evangeliums und der Sendung Jesu. Papst Benedikt hat sein Leben unter das Wort „Mitarbeiter der Wahrheit gestellt.“ Das ist ein hoher Anspruch, aber letztlich der grundlegende Auftrag, den der erhöhte Herr seiner Kirche für alle Zeiten mitgibt. Wahrhaftig unseren Glauben leben, um so Zeugnis für die Wahrheit zu geben, dann gehören wir zum Königtum Christi, der als treuer Zeuge Herr über alle Mächte ist. Amen. Sven Johannsen, Pfr.
70 Jahre Kirchweihe St. Alfons "Damit die Erde am Himmel hafte"
Predigt 70 Jahre Kirchweihe St. Alfons (7.11.1954)
Liebe Schwestern und Brüder
Der Baumkronenschnitt muss die Silhouette der Kirche St. Alfons auf der Keesburg als herausragendes Baudenkmal der Stadt Würzburg gewährleisten, so habe ich es in der vergangenen Woche bei einer Besprechung über die Zukunft unserer Gebäude erfahren. Es war keine Veranstaltung des Obst- und Gartenbauvereins, der sich Sorgen um den Baumbestand im Klostergarten macht, sondern ein Treffen, in dem Fragen angesprochen wurden, was und wie hoch, deshalb als das Maß der Baumkrone, kann auf dem Areal um die Kirche gebaut werden. Deutlich ist, dass die Stadt Würzburg und auch die Denkmal-Behörden die Sicht auf die Kirche St. Alfons gesichert wissen möchten. Natürlich spielen wir nicht in der gleichen kulturellen Liga wie die Festung, aber wie das Würzburger Wahrzeichen gilt auch unsere Kirche als prägend für das Stadtbild. Von weither und v.a. aus den Niederungen des Maintals sieht man den markanten Campanile und den ungewöhnlichen Kirchenbau. Nach 70 Jahren ist St. Alfons nicht aus dem Stadtbild wegzudenken. Nur wenige von Ihnen haben noch ganz andere Diskussionen erlebt: „Sprungschanze“, „Abschussrampe“, „Flugzeughalle“, „Ausgeburt eines architektonischen Brutalismus“ und viele andere Polemiken mussten Dombaumeister Hans Schädel und die Verantwortlichen im Bistum sich anhören, denn für viele Würzburger war schon der Anblick des freistehenden Glockenturms und des eher nüchternen Außenbaus befremdlich, besonders aber das „Mars-Menschen-Gemälde“ im Inneren, wie unser Altarbild diffamiert wurde, sorgte lange für erregte und erhitzte Diskussionen. Wahrscheinlich erinnern sich einige noch an die Debatten, vielleicht sogar in der eigenen Familie, gerade auch in der Spannung mit der älteren Generation, die ein anderes Bild von Kirchenbau hatten.
Heute können wir den funktional wirkenden Bau und das monumentale Altarbild von Georg Meistermann gut in Einklang bringen und ihre innere Verwobenheit erkennen. Wie ein großer Fingerzeig ragen Kirche und Turm zum Himmel und das Kreuz auf dem Dach, das nur den Umriss des Gekreuzigten zeigt, verweist uns auf die österliche Botschaft: „Er ist nicht im Grab oder am Kreuz, sondern als der österliche Herr mitten unter euch.“ Der noch zurückhaltende österliche Hinweis der Außenfassade öffnet sich mit Wucht dem, der die Kirche betritt und das imposante Gemälde von Georg Meistermann betrachtet: Wir sind Teil der himmlischen Liturgie, versammelt mit den Chören der Engel und den Scharen der Heiligen um den Thron Gottes. Das Äußere der Kirche lädt die Menschen, die noch gute Erinnerungen an den Schrecken des Krieges und der Zerstörung der Stadt hatten, österliche Wirklichkeit in ihrem Stadtteil zu erkennen, und das Innere ermutigt, die Herzen zu erheben und selbst Teil der himmlischen Chöre zu werden.
Es hätte auch der besondere Baustil und die Lage von St. Alfons sein können, die den Dichter Reiner Kunze beim Anblick des Stadtbildes von Lübeck poetisch sagen ließ: „Damit die Erde hafte am Himmel, schlugen die Menschen Kirchtürme in ihn“ (Reiner Kunze, Die Silhouette von Lübeck, im Gedichtband: auf eigene hoffnung, Frankfurt 1981, S. 44.) Unser Kirchturm ist tief in der Erde verwurzelt und zugleich kann man den Eindruck teilen, dass er seinen wahren Haftpunkt nicht auf der Erde, sondern im Himmel hat und so die Erde an den Himmel bindet. Es ist ein eindrucksvolles und sprechendes Bild, das Reiner Kunze uns anbietet: Unser Kirchturm ist wie ein Nagel in den Himmel geschlagen, damit die Erde an ihm haften bleibt. Durch die Kirche macht die Erde sich fest am Himmel, damit sie nicht ins Haltlose stürzt. Bischof Felix Genn von Münster deutete das Gedicht Kunzes auf die geistliche Dimension des Menschen hin: Es ist die tiefe Sehnsucht, dass Erde mehr braucht als das Einerlei. Sie braucht die Dimension des Himmels, die Möglichkeit sich auszustrecken in ein Unendliches. Deshalb schlugen Menschen Kirchtürme in ihn hinein, damit die Erde durch dieses Zeichen hafte am Himmel. Es gibt diese Sehnsucht und sie wird stärker, je mehr Menschen erleben, was die Erde ihnen alles bieten, was sie ihnen aber auch nicht bieten kann.“ (Predigt zur Domkirchweih Essen 2005)
Das erleben wir in Kirchen Tag für Tag: Ungezählte Menschen kommen, zünden eine Kerze an, verweilen und beten, weil sie hier den Haftpunkt zwischen Himmel und Erde ahnen. Nicht nur weil wir ein Haus für den Gottesdienst brauchen, ein Museum, in der wir die Kunstschätze unserer Pfarrei präsentieren können, sondern um Menschen einen Ort für ihre Sehnsucht nach dem Himmel und nach der Unendlichkeit zu geben, wo sie die Menschen aufgehoben wissen, die sie durch den Tod verloren haben, wo sie den ewigen Gott erahnen, der die beschützen kann, die ihnen im Leben lieb sind und der Antworten auf die großen Fragen des Leben geben kann.
Damit die Erde hafte am Himmel schlugen Menschen Kirchtürme hinein - von dieser Bodenhaftung des Himmels oder besser noch der Himmelshaftung der Erde im Hause Gottes spricht schon das Alte Testament.
Wir haben als Lesung das Weihegebet des Salomo gehört. Seitdem das Volk Israel im gelobten Land ankam, hatte es das große Bedürfnis, Gott ein Haus zu bauen, aber es wurde ihm verweigert. Selbst König David, der Liebling Gottes, durfte keinen Tempel bauen. Gott ließ sich nicht einsperren wie die Götzen der anderen Völker. Er durchwaltet Zeit und Raum ohne Grenzen. Erst seinem Sohn Salomo gestattete Gott die Errichtung eines festen Baus mit klaren Vorgaben. Niemals sollte das Volk Israel glauben, sie hätten Mauern gebaut, zwischen die sich Gott sperren ließe. So drückt Salomo in seinem Gebet auch das ehrfürchtige Staunen aus, dass der unfassbare Gott in einem Haus wohnen soll, das Menschen gebaut haben. Salomo macht klar: Der Tempel des Volkes Israel ist nicht Gottes Wohnung, sondern der Ort an dem sein Name wohnt, wo er also ansprechbar wird für die Menschen, wo sie ihn anrufen und ihm begegnen können: Eine Stätte, an der Gott den Menschen hört und ihm verzeiht. Es darf kein kultisches Gefängnis werden, in das man Gott einsperrt, damit der Glaube aus dem Alltag herausgenommen bzw. verbannt wird in einem sakralen Raum außerhalb des wirklichen Lebens, sondern ein Heiligtum, in der das Leben der Menschen eingetaucht wird in die Schekina, in die Herrlichkeit Gottes, eben ein Ort, wo die Erde am Himmel haftet.
Aus diesem Grund vermisst Israel seinen Tempel, aus diesem Grund können fromme Juden nur schwer damit umgehen, dass über dem Tempelberg andere Religionen ihre Gotteshäuser errichtet haben. V.a. aber halten Juden bis heute den letzten Rest des Tempels, die Klagemauer, oder Westmauer heilig, weil sie hier den Ort betreten, an dem die Gegenwart Gottes in verdichteter Weise zu erfahren ist.
Und genau diese Sicht des Tempels treibt Jesus an, im Evangelium gegen all die vorzugehen, die den Tempel seine Heiligkeit nehmen wollen. Die Händler haben nichts Böses getan, sie sitzen auch nicht im eigentlichen heiligen Tempelbezirk, sondern im äußeren Vorhof, wo seit langer Zeit die Opfertiere verkauft werden für den Kult im Tempel. Jesus erzürnt, dass das Zentrum sich verrückt hat. Um den Tempel hat sich ein solcher Marktbetrieb aufgebaut, dass die eigentliche Sehnsucht nach der Begegnung mit Gott in den zentralen Höfen und Einrichtungen des Tempels fast nebensächlich wurde. Jesus will den Tempel nicht zerstören, er will ihm seinen Wert wiedergeben: Der Mensch mit seinem irdischen Sorgen und Freuden tritt ein in Herrlichkeit des unfassbaren Gottes - Staunen, Ehrfurcht, aber auch Vertrauen und Geborgenheit sollen ihn ergreifen.
Am Fest der Kirchweihe wird uns gesagt: Der Wert unsere Kirche geht weit hinaus über den äußerlichen Bau. Es ist der Punkt, an dem unsere Lebensräume am Himmel haften. Genau das haben wohl auch unsere Vorfahren so empfunden. Unser Kirchturm erhebt sich 38 Meter in die Höhe. Er wurde errichtet in den Jahren nach dem II. Weltkrieg verbunden mit dem Erleben, dass alles dem Erdboden gleich war und unserer Stadt nach dem Fliegerangriff am 16. März 1945 am tiefsten Punkt ihrer Geschichte angelangt war. Auch fast zehn Jahre später liegen noch Trümmer an den Straßenrändern und die Folgen des Krieges sind noch lange nicht beseitigt. Familien warten auf Väter, Söhne, Brüder, die noch in russischer Gefangenschaft festsitzen und vielleicht erst als Spätheimkehrer zurückkommen können oder eben gar nicht mehr. Genau in dem Moment, in dem wohl die Sorgen der Erde, die Sorge um das tägliche Brot die Menschen der Stadt in besonderer Weise beschäftigten, hefteten sie ihre Erde noch stärker an den Himmel und bauten diese Kirche und ihren Campanile, als wollten sie sagen: Jetzt, wo wir am Boden liegen, lassen wir den Himmel erst recht nicht los. In den großen und kleinen Nöten unseres Stadtteils war es diese Kirche, in der die Menschen seit 70 Jahren trauerten, flehten, hofften und neue Kraft empfingen, weil sie ahnten, dass Gott ihnen nahe bleibt.
Die Kirche muss im Dorf oder besser im Stadtteil bleiben, und sie muss Kirche bleiben, damit unsere Erde Himmel atmet und die Menschen nicht haltlos werden. Zugleich heißt das aber auch: Unsere Kirche ist nicht ohne Menschen denkbar, die sie füllen, die in ihr beten, die in ihr die Eucharistie feiern und sagen: Ohne die Feier des Sonntags kann ich nicht leben. Ob unsere Kirche ihren Wert verliert und renovierungsbedürftig wird, hängt nicht nur daran, ob baulicher Verfall sich breit macht, sondern noch mehr ob wir, die Gläubigen, in ihr Gott nahe kommen oder nicht. An diesem Punkt kommen Ängste auf: Kirchen werden dort nutzlos, wo die Menschen dieser Erde im Leben und im Alltag den Bezug zu Gott verloren haben. Ohne Kirchen kommt den Menschen die Begegnung mit dem persönlichen Gott abhanden. Die Krise der Kirche ist auch eine Krise des Glaubens. Mancher mag meinetwegen irgendein höheres Wesen beim Waldspaziergang erahnen, aber das hat noch lange nichts mit unserem Gott zu tun. Kirche lebt nicht nur am Sonntag, sie ist das Haus, das Gott zu eigen genommen hat, und das für den Menschen offenbleibt, auf dass wir verstehen und wissen: „Damit die Erde hafte am Himmel, schlugen Menschen Kirchtürme in ihn ein“ Sven Johannsen, Pfr.
32. Sonntag B "An Gott mich klammern"
Predigt 32. Sonntag B – „An Gott mich klammern“ (Augustinus)
Liebe Schwestern und Brüder
Evangelikale Christen feiern den neu gewählten US-Präsidenten als den Retter, den Gott ihrem Land geschickt hat. Der russische Präsident versteht sich selbst als von Gott gesandt, um die Größe Russlands wiederherzustellen. Ist das Religion oder kann das weg?
Fanatische Anhänger verschiedener Weltreligionen sehen es als Auftrag Gottes, Andersgläubige zu bekehren oder gar zu eliminieren. Ist das Religion oder kann das weg?
Alte Männer in feierlichen Gewändern prozessieren über den Petersplatz in Rom und verstehen ihre Besonderheit als von Gott gewollt. Frauen, so ihre Botschaft, gehören nicht in diesen elitären Club, weil Gott das nicht will. Ist das Religion oder kann das weg?
Täglich werden wir mit Bildern und Nachrichten konfrontiert, in denen Menschen Gott in Anspruch nehmen für Ihre Zwecke und behaupten, dass ihr Handeln und viele Äußerlichkeiten dem Willen Gottes entsprechen und wesentliche Bestandteilevon Religion sind. Oft hat man den Eindruck, dass sie Gott gar nicht brauchen, sondern nur für ihre Zwecke als Legitimation gebrauchen. Das entspricht dem Vorwurf, den Jesus heute gegen die Schriftgelehrten erhebt. Religion kann schnell missbraucht werden für das Aufpolieren des eigenen Images, für die Durchsetzung von Machtansprüchen und Einfluss, für Abgrenzung und Ausgrenzung, sogar für Hass und Gewalt gegen Menschen, die anders denken und anders sind. Die Versuchung, Religion für die eigenen Zwecke auszunutzen und so Gott zum Götzen zu degradieren, ist m.E. als Gefahr in jeder Religion zu finden.
Was aber ist Religion? Ich glaube, dass das heutige Evangelium darauf eine Antwort zu gibt.
Wir bewundern schnell die Opferbereitschaft der Witwe, die in den Tempel geht und nicht nur etwas vom Überfluss, sondern ihren ganzen Lebensunterhalt gibt. Man kann das Wort Jesu wiedergeben mit dem Schluss: „Sie gibt ihr ganzes Leben.“ Das ist sicher vorbildhafte Barmherzigkeit und ein Beispiel für eine Opferbereitschaft, die wirklich vom Menschen etwas abverlangt. Während die meisten Besucher des Tempels ein kleines Scherflein in den Opferstock werden, dessen Verlust sie nicht wirklich schmerzt, gibt die Frau für Gott und die Menschen die letzte Sicherheit für diesen Tag oder sogar für eine längere Zeit.
Ist das Religion? Das Handeln der Frau ist bewundernswert, aber noch nicht per se eine religiöse Tat. Sie kann auch aus Furcht vor Strafe geschehen. Dann entspringt ihre Haltung nicht einer gesunden Gottesbeziehung sondern ist der Angst vor einem bösartigen Dämon geschuldet. Oder aber sie erwächst aus der falsch verstandenen Hoffnung, dass Gott ihr für die zwei Münzen die doppelte Summe zukommen lassen wird. Dann ist das nicht nur Berechnung, sondern Dummheit, in jedem Fall aber keine Religion. Wir erfahren wenig über die Beweggründe der Frau im Evangelium. Die Liturgie gibt ihr aber ein Gesicht und eine Geschichte in der Witwe von Sarepta, die uns in der ersten Lesung vorgestellt wird.
Elija ist auf der Flucht. König Ahab und seine Frau Isebel sind vom Glauben abgefallen und verfolgen den letzten Kämpfer für den Gott Israels. In Israel ist er nicht mehr sicher und Gott schickt ihn nach Sarepta, eine kleine Stadt am Mittelmeer oberhalb der Nordgrenze von Israel. Drei Jahre lang herrscht ein schreckliche Dürrekatastrophe, weil Elija im Auftrag Gottes den Himmel verschlossen hat, so dass kein Regen und kein Tau mehr fallen.
Die Witwe bleibt namenlos, so kann sie gut zur Identifikationsgestalt für die Frau im Evangelium werden. Sie ist ein Mensch unter vielen und wie viele andere auch muss sie sich mit ihrem Sohn durch ein mühsames Leben schlagen. Mit Elija verbindet sie die Perspektivlosigkeit. Der erschöpfte Elija und die hungernde Frau stehen am Ende ihres Lebens. Sie hat nichts mehr zu Hause außer einer Handvoll Mehl und einigen Tropfen Öl, das gerade noch reicht für ein letztes spärliches Mahl. Wir können gut nachvollziehen, dass sie dem Wunsch des Elija nach einer Mahlzeit nicht entsprechen kann. Dann aber geschieht das Erstaunliche: Sie vertraut auf sein Wort „Fürchte dich nicht!“. Die Frau weiß nichts von den Streitigkeiten zwischen dem Propheten und dem Königshaus. Sie kämpft ums Überlegen und hat letztlich schon abgeschlossen mit dem Leben und der Welt. Jetzt steht sie vor der Entscheidung: Das letzte Mahl für sich und ihren Sohn bereiten oder den letzten Bissen mit einem Fremden teilen? Elija verspricht, dass Gott ihr helfen wird, aber sie ist keine gläubige Israelitin. Sidon hat eigene Götter, die ihr aber nicht zur Seite stehen. Die Witwe vertraut unerwartet auf den Gott Israels und tut, was Elija ihr sagt. Ihr Gottvertrauen wird nicht enttäuscht werden. Happyend?
Nicht ganz. Die Geschichte geht weiter. Der Glaube der Frau wird ein zweites Mal auf die Probe gestellt. Ihr Sohn erkrankt und liegt im Sterben. Jetzt wehrt sie sich gegen Elija und seinen Gott. Auch Elija begreift nicht, wie Gott diesen Schicksalsschlag zulassen kann. Er klagt Gott an. Doch jetzt bewährt sich sein Glaube. Er betet für die Frau und ihren Sohn und Gott schenkt ihm das Leben. Am Ende wird die Frau feststellen: „Jetzt weiß ich, dass du ein Mann Gottes bist und dass das Wort des Herrn wirklich in deinem Mund ist.“
Der heilige Augustinus hat Religion in der Folge des Theologen Laktanz mit dem lateinischen Wort „religare“ „zurück- oder festbinden an Gott“ gedeutet. Die Erklärung ist heute bei Sprachwissenschaftler umstritten, aber sie drückt aus, um was es in der Religion geht: Ein festes Binden an Gott in der Sicherheit, dass er mich nicht fallen lässt. Augustinus bringt seine religiöse Erfahrung in das Wort: „An Gott mich klammern, das ist meine Kraft.“ Das ist keine Haltung untätigen Fatalismus, sondern das Fundament, auf dem gelebtes Gottvertrauen im Alltag möglich ist. Er formuliert klug weiter: „Bete, als hinge alles von Gott ab. Handle, als hinge alles von dir ab.“
Ich denke, dass genau diese Haltung im Opfer der Frau zum Ausdruck kommt. Sie gibt für Außenstehende nur ein kleines Opfer, für sie selbst aber ist es ihr ganzes Leben, alles, was sie geben kann, um die Not der Menschen zu lindern. „Handle, als hinge alles von dir ab.“ Sie kann das tun, weil sie im Gebet erfahren hat, dass alles von Gott abhängt. Sie riskiert nichts, weil sie sich des Beistands Gottes sicher ist, und so muss sie nicht lange überlegen oder sich zu dieser Tat zwingen. Ihre ist für sie selbstverständlich. Dahinter offenbart sich eine Frau, die die Erfahrung gemacht hat, dass sie sich auf Gott verlassen kann wie die Witwe von Sarepta. Sicher musste die Witwe auch durch viele Bedrängnisse und Zweifel. Ihr Leben ist schwer und das Ringen mit Gott, warum ihr Leben nicht glücklicher verlaufen ist, wird auch seinen Platz in ihrer Geschichte gehabt haben. Stärker aber muss die Erfahrung sein, dass sie in der Not von Gott gehalten ist und auf seine Hilfe bauen kann. Sie zeigt ihre Dankbarkeit in den beiden Münzen, die für Jesus am vergangenen Sonntag den Kern von Religion ausmachen: Die Münze der Gottesliebe und des Gottesvertrauen und die Münze der Nächstenliebe und Barmherzigkeit.
Was ist Religion?
Sie ist mehr als eine Sehnsucht, in der der Mensch sich ausstreckt nach einer Hoffnung, die er sich selbst nicht geben kann. Das wäre eine Illusion.
Sie ist mehr als eine Ansammlung von Ritualen, Traditionen und heiligen Ämtern. Das wäre nostalgische Brauchtumspflege.
Sie ist mehr als Lehren, rechtliche Anweisungen und Gebote bzw. Verbote. Das wäre eine Ideologie.
V.a. aber ist sie niemals die Legitimation für Fanatismus und Machtmissbrauch oder gar für den Anspruch von Politikern, sich als von Gott legitimiert zu sehen. Das wäre reiner Götzendienst.
Religion ist eine innere Sicherheit, die mich Gott und seinem Handeln vertrauen lässt, und so ist sie Ausdruck einer innigen Gottesbeziehung, eines Vertrauens, das uns befähigt, unser echtes, alltägliches Leben von Gott in Anspruch nehmen zu lassen. Diese religiöse Haltung kann ich nicht erzwingen oder als Leistung erbringen, sie wächst mit der Reifung des Lebens und bringt ihr Gaben in den beiden Münzen der Gottes- und der Nächstenliebe. Religiös ist der Mensch, der wie Augustinus sagen kann: „An Gott mich klammern, ist meine Kraft.“ Amen
Sven Johannsen, Pfr.
31. Sonntag B "Liebe braucht Begegnung"
Predigt 31. Sonntag B „Liebe braucht Begegnung“
Liebe Schwestern und Brüder
Wo haben Sie Ihre Ehefrau / Partnerin / ihren Ehemann / Partner kennengelernt? Auf der Arbeit? Beim Sport? Schon im Kindergarten oder in der Schule? Viele ältere Paare erzählen mir bei Jubelhochzeiten, dass sie sich bei Maiandachten zum ersten Mal gesehen und später auf der Kirchweih im Nachbarort getroffen haben: Das war wohl mal eine sehr beliebte Partnerbörse. Später waren es vielleicht Diskotheken oder sogar in der kirchlichen Jugendarbeit hier in der Pfarrei? Immer stand am Anfang eine Begegnung, bei der keiner der beiden ahnen konnte, dass Jahrzehnte gemeinsamen Lebens, Kinder, Enkel oder sogar schon Urenkel folgen werden. Ohne Begegnung geht Liebe nicht. Oder doch?
Mittlerweile lernen sich die meisten Paare im Internet kennen. Corona hat den Plattformen, auf denen Menschen miteinander erste Kontakte knüpfen in der Hoffnung, dass sich daraus eine feste Partnerschaft entwickelt, einen gewaltigen Aufschwung verschafft. Mittlerweile lernen sich rund ein Viertel aller Paare im Internet kennen. Erst dann folgen die Arbeit und der Freundeskreis als erste Orte der Liebe. Die Internetplattform Tinder erwirtschaftete im Jahr 2022 rund 1,65 Milliarden US-Dollar mit der Partnersuche im Internet.
In vielen Traugesprächen bekomme ich diesen gesellschaftlichen Trend bestätigt. Oft hat man schon Enttäuschungen in anderen Partnerschaften hinter sich, bis man den Schritt wagt, auf einer Dating-Plattform nach dem richtigen Partner / der richtigen Partnerin zu suchen. Es klingt ein wenig paradox. Zum einen schützt die online Kontaktaufnahme vor Verletzungen. Ich kann schnell und ohne Spuren zu hinterlassen mich zurückziehen. Zum anderen ist die treibende Kraft hinter der Anmeldung auf einer solchen Plattform die Suche nach Nähe, Intimität und einer vertrauensvollen Beziehung, in der ich mich ganz öffnen kann. Die Sozialpsychologin Johanna Degen erklärt diesen Trend so: „Menschen wollen sich online näherkommen, gleichzeitig aber versuchen sie, zu viel frühe Nähe zu vermeiden. Denn wer sich berührt, kann sich in der Seele wehtun – und wenn sich wie im Netz potenziell alle sofort berühren können, können Schmerz oder Enttäuschung zu groß werden.“ (vgl. ZEIT Wissen 04/2022 „Die heißeste Verbindung zwischen zwei Menschen“). Aber bei aller Vorsicht kommt der Mensch auf der Suche nach Liebe nicht an der körperlichen Begegnung vorbei. Der Philosoph Charles Pépin beschreibt die Begegnung als einen Widerstand, auf den wir treffen. In dem Wort Begegnung stecke das Wörtchen "gegen" drin. „Wir stoßen also auf jemanden. Auf einen Menschen, zu dem wir uns hingezogen fühlen, in dessen Umlaufbahn wir gerne eindringen würden – mit dem Wissen um das Risiko, dass wir ineinander stürzen und uns auslöschen könnten.“ Nur so kann Liebe entstehen. Alles andere ist ein Zweckbündnis oder eine Abhängigkeit. Zwei Menschen mit einer oft unterschiedlichen Lebensgeschichte und familiären Hintergründe treffen aufeinander und spüren, dass sie einander nicht im Weg stehen und behindern, also gegen den anderen wirken, sondern dass sie einander anziehen und brauchen. Ohne Begegnung keine Liebe, die die Kraft hat, das Gegensätzliche zweier Menschen zu überwinden. Die Liebe muss eine Macht sein, die stärker ist als der Wunsch, sich ganz und gar ohne Rücksicht auf andere auszuleben. Der jüdische Philosoph Martin Buber hat es schon vor hundert Jahren treffend beschrieben in der Beobachtung, dass „der Mensch erst am Du zum Ich wird“ und in seiner Schlussfolgerung „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“.
Gilt das auch für die Aufforderung „Gott zu lieben“? Wir betreten heute gleichsam die Herzkammer des jüdischen Glaubens, in dessen Mittelpunkt das Bekenntnis „Höre, Israel“ steht, dessen Worte sich heute am Ende der Lesung finden: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.“ Das Hauptgebot Israels ist die alleinige Verehrung Gottes, denn nur er liebt sein Volk Israel. So wie Gott Israel liebt und weil Gott Israel liebt, sollen die Israeliten und Israelitinnen Gottes Gebote, seine Weisung für ein gelingendes Leben, halten. Die letzte Zeile macht deutlich, dass der Ort für diese Liebe das Herz ist, nicht der Kopf. Es geht nicht darum, Regeln oder Lehrsätzen auswendig zu lernen, sondern sich von der Kraft anziehen zu lassen, die Gott auf den Menschen ausübt. Die Konsequenz aus der Liebe zu Gott aber ist für das Alte Testament die Liebe zum Nächsten. Jesus fasst diesen Zusammenhang im Evangelium zusammen, wenn er heute von einem aufrichtig nach Gott suchenden Menschen nach dem wichtigsten Gebot gefragt wird. Die Liebe zu Gott lässt sich nicht trennen von der Liebe zum Menschen und auch zu sich selbst. Es geht nicht um die Erfüllung einer Vorschrift, sondern um das, was dem Menschen am Herzen liegt und somit unendlich wichtig ist: Leben aus der gelingenden Liebe.
Das ist keine abstrakte Philosophie oder Einbildung. Israel kann Gott lieben, weil sie sich nahegekommen sind. Gott erinnert sein Volk immer wieder an die Begegnungen mit ihm, v.a. an die Urerfahrung des Glaubens, die Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten, seine Rettung am Schilffmeer und den gemeinsamen Weg durch die Wüste. Vielleicht war es nicht Liebe auf den ersten Blick, die Israel mit seinem Gott verbindet, zu verlockend wirken die mächtigen Götzen der anderen Völker, zu oft erinnert man sich an die Fleischtöpfe in Ägypten und fällt wieder von ihm ab, aber die Begegnungen mit Gott, die Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel und Lea mit ihm erfahren haben, sind das Fundament, auf dem der Bund, die Partnerschaft zwischen Gott und den Menschen aufbaut. Gott lieben, setzt voraus, ihm zu begegnen oder die Begegnung mit ihm wahrzunehmen und zu deuten. Das gilt für das Volk Israel und für jeden glaubenden Menschen.
Ich wage die These, dass man Gott wirklich aus ganzem Herzen lieben kann wie einen anderen Menschen. Voraussetzung dafür aber ist der Mut zur Begegnung. Wie in menschlichen Beziehungen gehe ich damit das Risiko ein, enttäuscht zu werden, weil mir seine Wege fremd bleiben, ich anderes erwarte als das, was geschieht, Zweifel an seiner Nähe aufkommen und ich mich in den Tälern des Lebens allein gelassen fühle. All diese Durststrecken kann der Glaube durchstehen, wenn er nicht nur im Kopf geschieht, sondern im Herzen eingepflanzt ist und sich festklammert an dem Vertrauen in Gott. Das ist nicht anders bei liebenden Menschen, die auch Zeiten der Entfremdung durchmachen müssen. Folge ich dem Kopf, der die Enttäuschungen zählt, die der andere Mensch mir zufügt, dann hat die Liebe keine Chance. Folge ich dem Herzen, das tiefer sieht und immer Hoffnung hat, dann sehe ich die gemeinsame Zukunft.
Wage ich die Liebe, dann kann sie aber zu einer Macht werden, die stärker ist als alle anderen Mächte der Welt. Sie wird oft unterschätzt und für naiv gehalten, aber keine Kraft kann mehr bewirken als sie. Davon war schon der Kirchenvater Augustinus überzeugt. Für ihn, der selbst Menschen, die ihn liebten, seine Mutter und die Mutter seines Sohnes, schwer enttäuschte, ist die Liebe die Erfahrung des Guten in der Welt schlechthin. „Augustinus verstand Liebe umfassender, als es heute üblich ist. Es ging ihm nicht nur um die Liebe zwischen Partnern, Freunden oder Eltern und Kindern. Es ging ihm um die Liebe als universelle Haltung, als alles durchdringende Kraft, die alle Menschen miteinander verbindet“, so die Autoren Tobias Hürter, Niels Boening und Katrin Zeug in einem Essay über die Liebe. (ZEIT Wissen 3/2022). Diese Macht der Liebe, die stärker ist als alles Dunkel, ist sichtbar in dieser Welt.
Sie wirkt, wenn am Samstagmorgen Tausend Freiwillige vor dem Krisenkoordinationszentrum in Valencia stehen, um mit Bussen in die Gebiete im Südosten Spaniens zu fahren, in denen die verheerenden Regenfälle und Unwetter der letzten Tage die schlimmsten Schäden angerichtet haben. Eine Frau erzählte im Radio, dass sie fünf Kilometer zu Fuß über die Autobahn ging, um dort zu helfen, wo kein Einsatzfahrzeug hinkommt.
Sie wirkt in jungen Menschen, die nach der Schule für ein halbes Jahr oder länger in Afrika als Volunteers mit Straßenkindern, Waisen und Schulkindern arbeiten oder sich in Projekten zum Schutz für Wildtiere engagieren und danach in ihren Pfarreien und Freundeskreisen kreative Ideen entwickeln, um weiter Spenden für die Menschen und Tiere zu sammeln, die ihnen ans Herz gewachsen sind.
Sie wirkt in den vielen Menschen jeden Alters, die in den vergangenen Tagen nicht aus Pflichterfüllung, sondern aus innerer Verbundenheit heraus, die Gräber ihrer Familien besucht, hergerichtet und geschmückt haben. Sie haben für sie gebetet, weil sie wissen, dass der Tod nicht das letzte Ende sein kann. Denn unsere Heilige Schrift sagt uns, dass die Liebe stark ist wie der Tod.
Menschen geben Zeugnis von dieser Liebe, die alles Böse besiegen kann, wenn sie trotz aller Rückschläge sich für Frieden und Versöhnung einsetzen, sich der Menschen annehmen, die als Flüchtlinge in unser Land kommen, oder Brücke bauen in einer Gesellschaft, die immer mehr in Gefahr gerät, zerrissen und gespalten zu werden.
Liebe muss nicht romantisch sein, sie kann auch mit voller Wucht in dieser Welt auftreten. Immer aber braucht sie ein Gegenüber, ein Du, auf das sie zielt. Für dieses Du nimmt der liebende Mensch die Welt und die Zeit wachsam und kritisch wahr und stellt sich dem entgegen, was den Geliebten bedroht.
In keiner anderen Gestalt ist dieser Einsatz für den Geliebten so wirklich geworden wie in der Hingabe Jesu am Kreuz für die Menschheit, die Gott liebt. Erich Fromm schrieb: „Liebe ist tätige Sorge.“ Diese Erfahrung machen wir im eigenen Umfeld durch so viele Menschen, die mehr für uns tun, als wir es je einfordern könnten. Wir sehen sie in so vielen Beispielen, die Menschen für den Aufbau einer gerechten und solidarischen Welt geben. Sie lässt uns nicht träumen, dass morgen alle Kriege vorbei sind oder alle Menschen sich liebhaben, aber sie lässt uns hoffen, dass sich immer mehr Menschen von ihr anstecken lassen und so beitragen, dass die Liebe zu Gott und den Menschen zum Grundgesetz für das gemeinsame Haus des Lebens wird. Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst – etwas Besseres kann der Menschheit nicht passieren. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer.
Allerheiligen "Gefüllte Stille"
Predigt Allerheiligen 2024 - Gefüllte Stille
Liebe Schwestern und Brüder
Haben Sie es heute Nacht gehört oder besser nicht gehört: Nichts! Seit 02.00 Uhr herrscht Stille in den Diskotheken, Bars und Kneipen unserer Stadt. Allerheiligen ist einer der stillen Tage. Stille Tage - das ist der erste Eindruck, den der November hinterlässt. Gleich viermal wird die Partyszene in unserer Stadt und im ganzen Land ausgebremst:
an Allerheiligen, am Volkstrauertag, am Buß- und Bettag und am Totensonntag gilt ein Tanzverbot. Die schönste Halloween-Party musste heute um 02.00 Uhr morgens verstummen und dem Hochfest Allerheiligen weichen. Aber Stille gefällt nicht jedem.
Es gibt Erfahrungen von Stille, die fürchten wir Menschen:
Peinliche Stille, wenn man nicht weiß, was man sagen soll, z.B. bei einem Kranken- oder Trauerbesuch, Eine unangenehme Erfahrung, die manchen davon abhält, überhaupt in ein Krankenhaus zu gehen, oder Trauernde Menschen anzusprechen. Sprachlose Stille, weil wir entsetzt Krankheit, Tod, Schicksalsschläge, Gewalt erleben und nicht in Worte fassen können, was uns bewegt.
Verordnete Stille nervt v.a. Kinder und Jugendliche, z.B. in der Schule oder aber auch daheim, wenn andere ihre Ruhe haben und nicht gestört werden wollen.
Stille, die endlos wirkt, quält Menschen, weil man oft im Alter einsam geworden ist, der Kreis der Menschen, sei es Ehepartner, Freunde, Nachbarn, kleiner geworden ist, die Kinder keine Zeit haben und man selbst nicht in der Lage ist, den ersten Schritt auf andere zuzumachen, so dass Tage endlos werden, belastet von einer Stille, die übertönt wird von Fernsehen und Radio.
Stille kann unerträglich, peinlich, belastend sein
Stille kann unruhig, panisch und aggressiv machen
Stille kann niederdrücken, traurig und einsam wirken.
Kein Wunder, wenn Menschen versuchen, der Stille aus dem Weg zu gehen, sich abzulenken und zu unterhalten. Immer mehr Menschen haben ein wirkliches Problem mit Lautlosigkeit, Geräuschlosigkeit und Stille. So wundert es nicht, dass sich lauter Protest erhebt, wenn der Staat die Menschen zur Ruhe zwingt und stille Tage wie heute festsetzt.
In Bayern haben wir acht sogenannte „Stille Tage“ Aschermittwoch, Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag und eben die o.g. Feiertage im November (Allerseelen ist dagegen ausgenommen), an denen von 02.00 Uhr bis 24.00 Uhr ein Tanzverbot besteht und Unterhaltungsveranstaltungen nur erlaubt sind, wenn sie dem ernsten Charakter der Tage entsprechen. Gegen diesen „Zwang zur Stille“ regt sich schon seit einiger Zeit Proteste von verschiedenen Gruppen. Der Bund für Geistesfreiheit und andere Gruppen hatte am Gründonnerstag zu Demonstrationen aufgerufen und politische Parteien im Verbunde mit dem Gaststättenverband, der die Interessen der Diskotheken vertritt, argumentieren schon lange: Stille Tage sind nicht mehr zeitgemäß, zumindest einige wie eben Allerheiligen. Unsere Gesellschaft ist in den Augen vieler Zeitgenossen nicht mehr christlich geprägt, so dass der Staat hier nicht im Namen der Religion Zwang auf Bürger ausüben darf, die nichts mit Glauben und Kirche am Hut haben. Zu Recht verweist der Gaststättenverband auf das schizophrene Verhalten des Gesetzgebers, der Tanzveranstaltungen verbietet, aber Sportveranstaltungen zulässt und auch kein Problem damit hat, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen an diesen Tag Horror- und Actionfilme sendet oder die Politiker selbst sich am Aschermittwoch auf ihren Kundgebungen mitunter unpassend gebärden. Letztlich können wir nur anerkennen: Die Lebensgewohnheiten der Menschen haben sich geändert und da stört die Stille nur. Sind stille Tage dann nicht aus der Zeit gefallen?
Ich müsste dieser Sicht zustimmen, wenn Stille nur eine erzwungene Lautlosigkeit wäre. Aber für uns Christen bedeutet Stille mehr als das Fehlen von Lärm und Geräuschen: Stille ist die Grundvoraussetzung für Gotteserfahrung. Für Menschen ohne Glauben, mag es keine Begegnung mit Gott sein, aber eine Sinnerfahrung bleibt es allemal. Es gibt für uns eine Stille, die nicht aus Sprachlosigkeit und Entsetzen, aus Langeweile und Einsamkeit kommt, sondern aus dem Erleben der Tiefe, des Geheimnisses unseres Lebens und der Gegenwart Gottes. Es gibt Momente, die bringen uns zum Schweigen:
- Ein Sonnenaufgang über der Wüste
- Eine herbstliche Farbenfülle in der Rhön
- Ein Moment tiefen Glücks, das wir nicht zerreden wollen.
Es gibt Momente, die lassen uns still werden, weil wir spüren, dass sie das Normale, Alltägliche übersteigen und uns eine andere, tiefere, ja jenseitige Erfahrung machen lassen, die durch Reden nur gestört wird. Romano Guardini hat in Worte gefasst, was Menschen brauchen, wenn er sagt: „Immer sollte in uns die Stille sein, die nach der der Ewigkeit hin offensteht und horcht.“
Für den glaubenden Mensch ist mit der Stille also der Blick über die Grenze verbunden, das Offensein für die Ewigkeit. In diesem Sinn ist Allerheiligen von seinem Wesen her tatsächlich ein stiller Tag, nicht nur weil am Nachmittag der Friedhofsbesuch in unserer Tradition beheimatet ist. Auch die eher festlich, fröhlich geprägte Liturgie des Morgens ist ganz durchdrungen von der Offenheit für die Ewigkeit. Die beiden Lesungen aus der Offenbarung und aus dem ersten Johannesbrief werfen einen Blick hinter jenen Horizont, der uns oft wie eine verschlossene Mauer erscheint. Die Offenbarungslesung wagt aus dem Rückblick eine Vorausschau. Der Autor, der die Verheißungen des Alten Testamentes vom großen Tag Jahwes kennt, ermutigt die Christen seiner Gemeinde darauf zu vertrauen, dass die Bedrängnis, die sie im Augenblick erleben, nicht das Letzte sein will. Am Ende setzt sich Gott durch und vollendet diese Welt. Der Johannesbrief ermutigt seine Leser, Großes von sich und der Zukunft zu denken: „Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Jeder, der dies von ihm erhofft, heiligt sich, so wie Er heilig ist.“
Beide Texte sind von sich aus nicht objektiv beweisbar. Sie beschreiben eine künftige Wirklichkeit, die wir nicht messen oder mit allgemein akzeptierten Fakten belegen können. Und doch sprechen sie jeden Menschen in einer Tiefe an, in der seine Sehnsucht nach Heil und Leben zum Klingen kommt. Sie sind nicht einfach eine Vertröstung auf das Jenseits, sondern Einsicht in die größeren Möglichkeiten Gottes, die der Mensch bejahen kann als die positive Grundoption seines Lebens. Wer in die Stille geht, der spürt, dass in ihm eine Dimension des Lebens ruht, die mehr will als das, was sich beweisen und belegen lässt, die nach dem Mehr der Ewigkeit ruft. Lothar Zenetti hat das so ausgedrückt:
Menschen, die aus der Hoffnung leben, sehen weiter;
Menschen, die aus der Liebe leben, sehen tiefer;
Menschen, die aus dem Glauben leben, sehen alles in einem anderen Licht.
Stille, die für die Ewigkeit offen ist, wird konkret einer Hoffnung, die weitersehen lässt, in einer Liebe, die tiefer sieht, und einem Glauben, der alles in einem anderen Licht sieht. Dafür stehen ja die Heiligen, die wir heute ehren, dass sie nicht aus der Welt geflohen sind, aber tiefere Gesetzmäßigkeiten für ihr Leben erkannt haben als die Meinungen und Stimmungen ihrer Zeit. Offen für die Ewigkeit und doch im Hier verankert, mit dem Ohr bei den Menschen und bei Gott so zeichnen sie sich aus.
Stille ist für uns nichts Bedrohliches, nichts Fremdes. Romano Guardini ordnet der Stille in seinen Gedanken zu den heiligen Zeiten die Mittagszeit, also die Mitte des erlebten Tages zu. Während am Morgen das Leben anhebt mit vielen Plänen und Ideen und am Abend die Müdigkeit das Leben zur Ruhe kommen lässt, ist für ihn der Mittag die Fülle des Tages, jener Moment, der ganz Gegenwart ist. Die Gegenwart aber ist der Nachbar der Ewigkeit. Für Guardini verkörpert Maria den Menschen des Mittags. Sie schweigt, eilt nicht, schaut nicht voraus und nicht zurück, sie ist ganz in der Gegenwart. Schweigen ist für den christlichen Glauben nicht Träumen, sondern gegenwärtig und wach sein für den ewigen Gott, der in unsere Zeit hineinspricht.
Eine solche Stille, wach für die Gegenwart und offen für die Ewigkeit, zeichnet den heutigen Tag aus. Wir spüren gerade auch in der Konfrontation mit unserer Endlichkeit wie sehr das Unendliche uns doch schon berührt. So erschließt uns Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ in der letzten Zeile wohin der heutige Tag, der stille Tag Allerheiligen, Menschen führen möchte:
„Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang, der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.“
Seine verordnete Stille im Gefängnis weiß Bonhoeffer eingebettet in einen vollen Klang, den auch seine Wärter nicht unterdrücken können. Während es ihm in der Untersuchungshaft in der Prinz-Albrecht-Straße nicht möglich ist, die Gesänge des Weihnachtsfestes zu singen, weitet sich der Lobgesang jener größeren Welt Gottes, der himmlischen Kirche, aber auch der Menschen, die singen, während er schweigen muß. In der Stille hört er die unsichtbare Welt singen, jenen vollen Klang des hohen Lobgesangs der Gotteskinder zu allen Zeiten, gestern, heute und auch morgen.
So darf er Mensch sich wünschen, was wir in einem neuen geistlichen Lied singen:
„Meine Seele ist stille in dir. Denn ich weiß, mich hält deine starke Hand. Auch im dunklen Tal der Angst bist du da und schenkst Geborgenheit. Meine Seele ist stille in dir.“ Amen. Sven Johannsen, Pfr.
30. Sonntag B "Der Glaube ist (k)ein Wunschkonzert"
Predigt 30. Sonntag B „Der Glaube ist (k)ein Wunschkonzert“
Liebe Schwestern und Brüder
Kinder wissen es besser als wir: keine zwei Monate mehr, dann ist Weihnachten. Die Zeit der großen Wünsche beginnt bald. Strategisch denkende Kinder halten jetzt schon die Augen offen, wenn sie durch Spielzeugabteilungen von Kaufhäusern gehen, im Fernsehen bzw. im Internet Werbung für die neuesten Spiele für die Xbox gezeigt wird, Playmobil sein neues Space Shuttle anpreist oder Lego seinen neuen Formel1-Rennwagen-Bausatz vorstellt. Bald beginnt die Zeit für lange Wunschzettel und das ständige Bedrängen der Eltern: „Das muss ich unbedingt haben.“ Irgendwann wird es dann auch den geduldigsten „Wünsche-Erfüllern“ zu viel und es kommt die barsche Antwort: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Dahinter steckt viel Lebenserfahrung: Wir können uns noch so viel im Leben und vom Leben wünschen, in der Regel müssen wir mit Enttäuschungen umgehen. Das Leben ist kein Ponyhof und kein Wunschkonzert. Ich kann mir vieles wünschen: Glück, Wohlstand, Zufriedenheit, eine gute Partnerschaft, Gesundheit … Für die Erfüllung mancher Sehnsucht kann ich meinen Beitrag leisten durch eigene Bemühungen und Anstrengung, aber in der Regel muss ich mich damit abfinden, dass ich meist leer ausgehen bzw. mit ungewünschten Ereignissen und Enttäuschungen zurechtkommen muss. Auch der Glaube bewahrt uns nicht vor dieser Ernüchterung. Ich weiß ja, dass Gott kein Fetisch ist, den ich reiben muss und dann erfüllen sie alle meine Wünsche, aber manchmal muss auch der glaubende Mensch damit ringen, dass Gott so wenig auf die Bitten in seinem Gebet hört. Es sind ja in der Regel keine übertriebenen Forderungen, die wir an Gott stellen, sondern Hoffnungen auf ein klein wenig Wohlergehen im Leben, die wir vor ihn tragen, und dennoch haben wir keine Garantie, dass Gott auch nur im mindesten darauf eingeht.
Dagegen werden wir heute im Evangelium mit der erstaunlichen Geschichte des Blinden Bartimäus konfrontiert. „Was willst du, dass ich dir tue?“, fragt Jesus. Und auf die kaum ausgesprochene Bitte des Bartimäus, wieder sehen zu können, erfüllt ihm Jesus schon den Wunsch. Da kann man ein wenig neidisch werden. Leben wir in der falschen Zeit? Hätte Jesus uns damals auch alle Wünsche erfüllt? Oder ist es etwa so, dass Gott andere Menschen bevorzugt? In der Regel schieben wir das heutige Evangelium von der Heilung des Bartimäus in den Bereich der Kinder- und Familiengottesdienste ab, so leicht verständlihc scheint das Wunder, das hier geschieht, zu sein, dass man Kindern damit gut erklären kann, wie lieb Jesus ist. Aber liest man das Evangelium im Kontext der größeren Erzählung, in die Markus sie stellt, dann dringt man schnell in tiefere Schichten des heutigen Wunderberichts vor.
Markus berichtet von der Heilung des Bartimäus an einer Schlüsselstelle seines Evangeliums. Jesus kommt ein letztes Mal nach Jericho. Jericho ist die tiefst gelegene Stadt der Welt, etwa 250 Meter unter dem Meeresspiegel. Jesus ist oft durch Jericho gekommen. Der Weg von Galiläa nach Jerusalem führt entweder über das Hochland, durch Samarien, heute das palästinensische Autonomiegebiet. Oder die Pilger gehen durch die Jordansenke bis nach Jericho, von wo dann der Weg steil hinauf ins Bergland von Judäa führt, nach Jerusalem, mit einem Höhenunterschied von gut 1000 Metern. Von der Oasenstadt Jericho, der ältesten Stadt der Welt, steigt auch Jesus zum letzten Mal hinauf nach Jerusalem, um das Osterfest zu feiern. Er weiß, dass der Weg durch das Kreuz zur Auferstehung führen wird. Seinen Jüngern hat er das seit dem Verlassen von Caesarea Philippi zwei Kapitel vorher immer wieder angekündigt, stieß aber weitgehend auf taube Ohren oder sogar Widerspruch. Den ganzen Weg über hat er sie belehrt, dass Jüngerschaft bedeutet, ihm auf dem Kreuzweg zu folgen und sein eigenes Kreuz auf sich zu nehmen. Die Jünger aber hörten nicht hin und stritten lieber darüber, wer von ihnen der Größte ist. Jesus wollte ihnen die Augen öffnen für das, was Nachfolge bedeutet. Am letzten Sonntag hat er es ihnen aufgezeigt am Beispiel der Mächtigen, die andere Menschen ausbeuten und unterdrücken, und gemahnt: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Aber ganz offensichtlich sehen die Jünger den richtigen Weg noch nicht. In Jericho angekommen ist die Atmosphäre spannungsgeladen. Viele fragen, ob Jesus sich in Jerusalem als Messias offenbaren wird. Alle erzählen von seinen Wundern und davon, dass er das Reich Gottes als ganz nahe angekündigt hat. Auch ein blinder Bettler hat von Jesu Heilungen gehört, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Wer kennt schon den Namen der Bettler? Meist sitzen sie unbeachtet am Straßenrand. Dabei dürfte Bartimäus bessere Zeiten gekannt haben. Erst als er durch eine der damals (und heute noch) häufigen Augenkrankheiten erblindet war, ist er zum Bettler geworden, hilflos angewiesen auf die Wohltätigkeit der anderen. Aber genau dieser blinde Bettler wird zum Vorbild des Glaubens. Jesus erfüllt ihm nicht einfach seinen Wunsch, vielmehr hat er erkannt, welches Potential der Nachfolge in Bartimäus steckt. Sein zweimaliger Ruf „Sohn Davids“ lässt annehmen, dass er körperlich blind richtig erkannt hat, wer da durch die Straßen Jerichos geht: der Messias, der von Gott zugesagte Retter, von dem der Prophet Jesaja sagt: „Ich, der HERR, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse dich an der Hand. Ich schaffe und mache dich zum Bund mit dem Volk, zum Licht der Nationen, um blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und die im Dunkel sitzen, aus der Haft.“ (Jes 42,6-8) Sein fester Glaube lässt sich auch vom Unwillen der Leute, die Jesus begleiten, nicht abweisen. Dieser Glaube macht ihn gemäß dem Wort Jesu heil: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet“ Aber Bartimäus geht jetzt nicht einfach seinen Weg, sondern folgt Jesus nach. Markus benutzt ein wunderbares Wortspiel, um die Größe des Glaubens des Bartimäus zu beschreiben: Am Anfang sitzt der blinde Bettler Bartimäus am Weg und hört, dass Jesus kommt. Am Ende folgt der sehende Jünger Bartimäus Jesus auf seinem Weg nach. Er freut sich nicht nur über die Heilung, er geht jetzt den Weg zu Kreuz und Auferstehung mit, weil er in Jesus den Sohn Gottes erkannt hat. Das heutige Evangelium ist also mehr als eine erbauliche Wunderheilung, es erzählt von einer Jüngerberufung, weil ein Mensch richtig sehen gelernt hat.
Bleibt aber die Frage nach der einfachen Wunscherfüllung. Wir sind ja auch bemüht, den Weg des Glaubens ernsthaft und konsequent zu gehen. Warum erfüllt uns Jesus nicht einfach unsere tiefsten Wünsche. Dann würde unser Glauben doch noch stärker werden.
Kennen wir unsere tiefsten Wünsche für das Leben? Da sind wir schnell sehr sicher: Gesundheit, eine glückliche Familie, Liebe, Wohlergehen für alle, die mir verbunden sind… Ist das so sicher?
Der russische Regisseur Andrei Tarkowski erzählt in seinem 1978 entstandenen Klassiker „Stalker“ von einem Professor und einem Schriftsteller, die sich auf die Suche machen nach einem „Raum der Wünsche“. An diesem Ort, so eine alte Legende, gehen die geheimsten, innigsten Wünsche in Erfüllung. Der Schriftsteller wünscht sich seine seit einiger Zeit fehlende Eingebung zurück. Über die Motivation des Professors erfährt man zunächst nichts. Geführt werden sie von einem „Stalker“, einem „Ortskundigen“. Sie sprechen über ihre Absichten, Hoffnungen und auch Zweifel. An einer Stelle erzählt der Stalker von seinem Vorgänger als Führer „Dikoobras“. Wie den anderen Stalkern war auch ihm verwehrt, selbst durch das Zimmer zu gehen. Er tat es dennoch, um seinen Bruder, den er aus Habgier auf dem Gewissen hatte, wieder zum Leben zu erwecken. Als Dikoobras aus der Zone, in der Raum der Wünsche liegt, zurückkehrte, wurde nicht sein Bruder wieder lebendig, aber er wurde unermesslich reich. Er erschrak: nicht das Leben seines Bruders war sein innigster Wunsch, seine Habgier war größer. Er verzweifelte. (vgl. Was Hoffnung für Christen bedeutet, in: Sonntagsblatt, Evangelische Wochenzeitschrift für Bayern; v. 29.9.2019)
Hätten wir Gelegenheit, in einen Raum der Wünsche zu treten, vielleicht würde auch uns ein ganz anderer Wunsch erfüllt als der, den wir vortragen. Vielleicht bekäme derjenige, der sich eine Million Euro wünscht, etwas ganz anderes. Genauso wie der, der sagt: "Ich will bei Gott sein."
Kennen wir unsere innersten Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche?
Der Raum der Wünsche ist nur eine fiktive Erzählung. Aber das Evangelium des heutigen Sonntags kann uns nachdenken lassen, welche Antwort wir Jesus geben würden auf seine Frage: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Sehe ich wirklich, was für mein Leben entscheidend ist und was ich brauche, oder lass ich mich blenden von der Sehnsucht nach einem kleinen bisschen Glück, auf das ich Anrecht zu haben glaube. Bartimäus hat erkannt, dass sein tiefster Wunsch ist, Jesus auf den Weg zu folgen. Dann aber ist es nicht mehr so wichtig, alle Schwierigkeiten und Gefahren im Vorhinein zu sehen, sondern seinem Glauben zu vertrauen und in Jesus den Weg zum Leben zu erkennen. Amen. Sven Johannsen, Pfr.
29. Sonntag B "In der letzten Bank"
Predigt 29. Sonntag im Jahreskreis B - „in der letzten Bank“
Liebe Schwestern und Brüder
in der letzten Bank einer Kirche treffen die katholische Ordensfrau und Professorin Melanie Wolfers und der evangelische Pastor Julian Stengelmann Menschen, die herausfordernde Lebenssituationen gemeistert haben, und sprechen mit ihnen über die großen Fragen des Lebens: „Woran merke ich, was mir wirklich wichtig ist? Was gibt mir Kraft nach einer Lebenskrise weiterzumachen?“ Seit einigen Wochen läuft im ZDF ein neues Talkformat mit den beiden Theologen, das den Titel trägt „Die letzte Bank - Fragen an das Leben“. Auf der ZDF Homepage wird die Reihe kurz beschrieben mit der Erklärung: „Authentische Lebenshilfe-Talk der Kirchen: über Höhen und Tiefen, Herausforderungen und Chancen, Spiritualität und Glaube.“ (www.zdf.de/gesellschaft/die-letzte-bank)
Abwechselnd laden Melanie Wolfers und Julian Stengelmann Menschen ein, sich mit ihnen in die hinterste Bank einer Kirche zu setzen und von Momenten und Ereignissen zu erzählen, die ihr ganzes Leben verändert haben. Bei ihnen saßen bisher vier Frauen: Eine werdende Mutter erlebt bei der Geburt ihres ersten Kindes physische und psychische Gewalt durch die Hebamme; eine andere Frau muss nach einen schweren Unfall so starke Schmerzmittel nehmen, dass alle emotionalen Empfindungen und v.a. die Liebe zu ihrem Mann verloren gingen; die dritte Frau gerät in die „Mama-Falle“ und erlitt einen Nervenzusammenbruch, weil sie sich über alle Grenze geht und sich für ihre Kinder aufopfert; eine engagierte Lehrerin spürt, dass sie, um nicht auszubrennen, etwas in ihrem Leben ändern muss. Sie wirft alles hin und begibt sich auf einen ganz neue Wege. Sehr unterschiedlich stellen sich die Erfahrungen der Frauen da. Manche haben Entscheidungen getroffen, die nicht von allen Zuschauern verstanden und bejaht werden. Auch dieses Risiko nehmen sie in Kauf.
Es sind sehr berührende und bewegende Gespräche, die Wolfers und Stengelmann an diesem ungewöhnlichen Ort „Die letzte Bank“ führen. Warum aber gerade dort?
Melanie Wolfers erklärt in einem Gespräch mit katholisch.de, „die letzte Bank sei häufig der Platz für Menschen, die oft gar nicht viel mit der Kirche zu tun haben, aber sich die Kirche anschauen und den Raum auf sich wirken lassen wollen. Oder sie suchten einen Moment der Stille, um innezuhalten und Gedanken zu sortieren.“ (https://katholisch.de/artikel/56740-ordensfrau-moderiert-neues-zdf-format-was-bewegt-sie)
In der hintersten Bank trifft man mitunter interessante Menschen. Dort lassen sich außerhalb der Gottesdienste Zeitgenossen nieder, die vielleicht die Sicherheit brauchen, möglichst schnell aus dem Gotteshaus flüchten zu können, wenn sie sich unwohl fühlen, oder die den Eindruck haben, dass sie nicht zur normalen Gemeinde passen, weil in ihrem Leben manches nicht so läuft, wie es die Kirche lehrt. Es können auch Menschen sein, die uns auf die großen Fragen des Lebens stoßen, die sich eben gerade in Krisenerfahrungen auftun: Wofür lebe ich? Wie komme ich wieder auf, wenn das Leben mich zu Boden geworfen hat? Was gibt mir Kraft und Halt in allen Umbrüchen? Um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, muss ich mich dann in die hinterste Reihe setzen und nicht auf den vordersten Plätzen warten.
Vielleicht verwehrt Jesus den Jüngern aus diesem Grund ihren Wunsch nach den Ehrenplätzen. Es ist weniger eine Herabsetzung, dass Gott möglicherweise andere bedeutender findet, sondern die Wahrnehmung dafür, wo Gott selbst sitzt: eher bei denen, die die Fragen nach Leben und Sinn stellen, als bei denen, die sich ehren lassen und aus Prestigegründen mit hervorgehobenen Plätzen belohnt werden wollen. Wenn die Jünger den Platz neben Jesu suchen, dann kann es sein, dass es nicht um festlich geschmückte Throne handelt, sondern um die hinterste Bank im Leben. Das macht Jesus ihnen deutlich. Direkt vor dem heutigen Evangelium hören wir die dritte Ankündigung Jesu, dass er leiden und gekreuzigt werden muss und nach drei Tagen auferstehen wird. Ich will nicht unterstellen, dass Jakobus und Johannes die Worte Jesu ignorieren oder nicht ernst genommen haben, aber sie sind mit ihrem Wunsch schon einen Schritt weiter: Sie konzentrieren sich ganz auf die himmlische Herrlichkeit, in der sie nach ihrer Einschätzung für alles belohnt werden sollen, was sie hier in der Nachfolge Jesu erdulden und leisten. Darüber hinaus versteckt sich in der Frage um die Platzverteilung ein verdeckter Wunsch nach Macht. Das erkennt Jesus und ruft den Jüngern das genuin Christliche in Erinnerung: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ Die Worte Jesu sprechen für sich selbst und brauchen keine Erklärungen. Wir wissen, wie schwierig dieser Weg der Nachfolge im Dienen ist, aber er bleibt unabdingbar. Dienen ist für Jesus nicht allein die Aufgabe von Untergebenen. Den Menschen und Gott dienen, ist Auftrag aller Jüngerinnen und Jünger, unabhängig von Stand und Titel. Dass dieses Ideal oft nicht der Wirklichkeit in der Kirche entspricht, muss ich nicht näher ausführen. Ich denke aber, dass es zu kurz gegriffen ist, deshalb in schöner Regelmäßigkeit die sog. „Würdenträger“ unserer Kirche zu kritisieren. Es geht auch um uns. Auch wenn unsere Macht nur begrenzt ist, haben wir Macht über Menschen in unseren Familien, in unseren Berufen, in unserer Gemeinde. Als Gemeindeteam, Pfarrer, Eltern, Kirchenverwaltungen, Vorgesetzte treffen wir Entscheidungen und andere müssen mit ihnen leben. Immer sind Aufgaben und Funktionen mit Macht verbunden. Die wichtigen Fragen dabei sind die Art und Weise wie Entscheidungen zustande kommen und mitgeteilt werden, also wie Macht ausgeübt wird, und wie die, die Macht innen haben, sich selbst verstehen und wahrgenommen werden. Gerade den letzten Aspekt halte ich für wesentlich. Auch Jesus hatte Macht. Es war seine Entscheidung, den Weg von Galiläa nach Jerusalem anzutreten, weil er darin seine Sendung erkannte. Die Jüngerinnen und Jünger wurden nicht gefragt, sondern folgten ihm. Aber Jesus als Kopf der Bewegung beschreibt sein Selbstverständnis als „Diener aller“. Sein Beispiel setzt den Maßstab: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, er soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“
Immer wieder macht er deutlich, dass er für sich, obwohl er der Sohn Gottes ist, nicht den ersten Platz beansprucht, sondern sich dort richtig weiß, wo er den Menschen begegnet, die ihn als Arzt für ihren Seelen brauchen, eben oft in der hintersten Bank.
Das Evangelium ist keine hämische Bloßstellung der Mächtigen, sondern eine Platzanweisung, wo die hingehören, die in besonderer Verantwortung für das Zeugnis der frohen Botschaft stehen.
Vor wenigen Tagen überraschte Papst Franziskus einmal mehr die katholische Welt mit unerwarteten Ernennungen von Bischöfen und Priestern zu Kardinälen. Erneut stehen v.a. Vertreter der Kirche an den Rändern im Fokus, während die beleidigten Kirchen in Europa, v.a. in Deutschland, übergangen wurden. Den mit dieser Auszeichnung geehrten Geistlichen schrieb der Papst einen Brief, in dem er aufzeigte, wie sie ihr Kardinalsamt verstehen sollen. Die Verantwortung als Kardinal sei, so der Papst, nicht in erster Linie ein Privileg, sondern umfasse vor allem den Dienst an den Leidenden und die Pflege des geistlichen Lebens. Er legt den neuen Purpurträgern drei Haltungen als Tugenden ans Herz:
„Augen hoch, Hände gefaltet, Füße bloß“
Seine engsten Mitarbeiter sollen die Augen aufmachen und über den eigenen Horizont und die eigenen Interessen die Anliegen der gesamten Kirche und der Menschheit im Blick behalten.
Sie sollen Menschen des Gebets sein und aus der Verbindung mit Gott die Orientierung bekommen für ihr Leben und ihre Amtsführung. Gott selbst führt seine Kirche und sein Wille für das Volk Gottes ist ihre Richtschnur.
Die Mahnung „Füße bloß“ verweist schließlich auf die Notwendigkeit, sich der Realitäten der Welt bewusst zu sein. Papst Franziskus betont, dass die Kardinäle bereit sein müssen, die Härte des Lebens in all seinen Formen – sei es Krieg, Verfolgung, Diskriminierung oder Armut – zu berühren. Sie sind aufgerufen, Mitgefühl und Barmherzigkeit zu zeigen und den Menschen in ihrem Leid beizustehen.
In der hintersten Bank der Kirche lässt sich gut der Blick auf das Ganze weiten, im Gebet verweilen und ins Gespräch kommen mit den Menschen in ihren Freude und Hoffnung, ihrer Trauer und Angst, um so das Beispiel Christi nachzuahmen.
Die hinterste Bank ist nicht nur der Platz für Talkformate und Würdenträger, sondern für uns alle, die Christus nachfolgen, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. Amen Sven Johannsen, Pfarrer
28. Sonntag B "Vom Besitz auf der Erde und Schätzen im Himmel"
„Wie reich sind Sie?“ - Auf diese Frage hat Olaf Scholz vor längerer Zeit (er war noch nicht Bundeskanzler) gesagt, dass er zwar ganz gut verdiene, aber als reich würde er sich nicht empfinden. Das hatte damals Unverständnis und Diskussionen ausgelöst. Später hatte er eine andere Antwort gefunden, nämlich dass man mit seinem Gehalt in Deutschland reich sei.
Tja, hat Herr Scholz und alle anderen Reichen (z.B. auch Friedrich Merz, der zwei Privatflugzeuge besitzt) noch eine Chance, in den Himmel zu kommen? Ein Kamel passt nun mal durch kein Nadelöhr. So hat nach den Worten von Jesus kein Reicher eine Chance, ins Reich Gottes zu kommen. Oder wie meinte es Jesus?
Nicht nur heute gibt es reiche Menschen, nicht nur zur Zeit Jesu, sondern auch schon im Alten Testament wird von reichen Menschen berichtet. Zum Beispiel war Abraham sehr reich. Im Buch Genesis berichtet sein Verwalter mit Stolz über ihn: „Der HERR hat meinen Herrn reichlich gesegnet, sodass er zu großem Vermögen gekommen ist. Er hat ihm Schafe und Rinder, Silber und Gold, Knechte und Mägde, Kamele und Esel gegeben.“ (Gen 24,35) Haben Sie es gehört: „Der Herr hat meinen Herrn reichlich gesegnet.“ Reichtum galt als Segen Gottes!
Ähnlich wird es auch von Salomo berichtet, wegen seiner Weisheit hochgelobt: „Alle Trinkgefäße des Königs Salomo waren aus Gold; ebenso waren alle Geräte des Libanonwaldhauses aus bestem Gold. … So übertraf König Salomo alle Könige der Erde an Reichtum und Weisheit.“ (1Kön 10,21.23) Ganz unbefangen und unbescheiden wird von seinem Reichtum erzählt.
Wenn man reich war, lag der Segen Gottes auf diesen Menschen - so war die Vorstellung.
Nun, viel später entstand das Buch der Weisheit, aus dem wir die Lesung gehört haben. Da hieß ist zum Reichtum, dass er nicht zu achten und die Weisheit allem vorzuziehen sei.
Ebenso gab es auch Kritik am Reichtum und an reichen Menschen im Alten Testament. Im Buch Kohelet macht sich der Weisheitslehrer darüber Gedanken, dass reiche Menschen nicht mehr gut schlafen können: „Dem Reichen raubt sein voller Bauch die Ruhe des Schlafs.“ (Kohl 5,11b)
Und es zieht sich durch das ganz Alte Testament die Verpflichtung, sich mit seinem Besitz für die Armen einzusetzen: „Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen.“ heißt es zum Beispiel im Buch Deuteronomium (Dtn 15,11b).
Das sind also die Einstellungen und Haltungen zur Zeit Jesu zur Reichtum und Armut, kurz gesagt: Reichtum galt als Ausdruck für den Segen Gottes, gleichzeitig auch als Verpflichtung, sich für die Armen einzusetzen.
Und jetzt kommt im Evangelium heute ein Mann auf Jesus zu. Vielleicht fühlte er sich wegen seines Reichtums gesegnet; vielleicht ging es ihm wie es im Buch Kohelet beschrieben war, dass sein Reichtum ihn nicht hat schlafen lassen. Alle Gebote hielt er ein, nur scheinbar nicht die, sich mit seinem großen Vermögen für die Armen einzusetzen.
Welche Antwort hatte er eigentlich von Jesus erwartet? Was erhoffte er, von Jesus zu hören? Dass er ihn von seinen Pflichten frei spricht? Dass Jesus sagt: reicht so, sehr gut, so erbst du das ewige Leben? Irgendwie vermute ich schon, dass ihm bewusst war, das noch etwas fehlt. Jesus macht ihm deutlich, was er möglicherweise auch schon geahnt hatte: Das mit deinem Reichtum, damit musst du noch etwas anfangen. „Verkaufe, was du hast, gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben.“ (Mk 10,21b)
Das ist sogar den Jüngern zu viel. Sie sind zunächst bestürzt. Als Jesus noch den Vergleich mit dem Nadelöhr sagt, „gerieten sie über alle Maßen außer sich vor Schrecken.“ (Mk 10, 26) Alles zu verkaufen und den Armen zu geben war ihnen zu viel. Sie selbst haben doch bereits alles verlassen, wirft Petrus eiligst in die Runde. Jesus beruhigt ihn mit der Zusage: Wenn jemand um seinetwillen und um des Evangeliums willen alles verlässt, wird das Hundertfache empfangen. (Mk 10,29)
Es fällt auf, was Jesus nicht zu Petrus und seinen Jüngern sagt: Er sagt ihnen nicht, dass auch sie alles verkaufen und es den Armen geben sollen. Er hat für jeden individuelle Antworten.
Denn es kommt ihm offensichtlich vor allem darauf an, das hinter sich zu lassen, was einen einengt, was jemanden hindert, das Evangelium in den Blick zu nehmen.
Es kommt ihm darauf an, nicht nur auf sich selber bezogen und auf das eigene Vermögen bedacht zu sein. Er möchte, dass man über sich hinaus schaut, über sich hinaus denkt; dass man auf das achtet, was es noch über den alltäglichen Spielraum alles gibt. Dem Mann sagt er, verlasse deinen Reichtum, denke an die Armen; es gibt auch noch die Wirklichkeit Gottes, folge mir nach.
Wie reich sind wir? Wie engt dies uns ein? Hindert unser Besitz uns, über uns hinaus zuschauen? Das können wir uns persönlich fragen. Das können wir uns auch als Kirche oder als Gesellschaft fragen.
Als Christen kennen wir das Dankgebet. Dies ist ein wichtiger und erster Schritt. Denn der Dank macht uns bewusst, dass wir uns vieles nicht nur verdienen können sondern auch vieles geschenkt bekommen. Der Dank öffnet uns auf Gottes Weite und zu unseren Mitmenschen. Jesus ist wichtig: Engt euch nicht ein. Lasst zurück, was hindert, durch ein enges Nadelöhr zu kommen. Dann erreicht man Gottes Weite.
Umgedreht kann man es auch so sehen: Man braucht überhaupt nicht viel, sonst kommt man durch ein Nadelöhr nicht durch.
Felix Lamprecht, Pastoralreferent
28. Sonntag B "Besitze ich das Geld oder besitzt das Geld mich?"
Liebe Schwestern und Brüder
„Er hat seine Seele verkauft und den Fußball verraten“ – Hart und unerbittlich fielen die ersten Reaktionen der Fans aus, als am Mittwoch bekannt wurde, dass Jürgen Klopp zum Unternehmen Red Bull als eine Art „Gesamtfussball-Chef“ zum Unternehmen Red Bull geht. Jürgen Klopp, Erfolgstrainer von Mainz 05, Borussia Dortmund und des FC Liverpool war immer eine Ikone des unverfälschten Fußballs, in dem Leistung und Talent mehr zählen als Millionen-beträge und die Erwartungen von Sponsoren. Er verkörperte das Ideal eines unabhängigen Trainers, der sich nicht unter das Dirigat von Investoren und Clubbesitzer beugte. Dann schlug diese Woche die Nachricht ein wie eine Bombe: Klopp wechselt zum Unternehmen Red Bull, dem mehrere Fußballvereine weltweit gehören, u.a. auch RB Leipzig. Seit langer Zeit schauen Journalisten und Fans mit Verachtung auf das Engagement des Getränke-Herstellers aus Österreich, weil sie darin eine Bedrohung für den Fußball als Sport sehen und befürchten, dass das Spiel zum Geschäft wird. Nun wechselt ausgerechnet die Lichtgestalt des alten Traums zum Unternehmen, das den Sport zu einer Branche seines Geschäftes gemacht hat. Das Urteil war schnell gefällt: „Verrat am Spiel und Verkauf an den teuflischen Gott Geld.“ Mittlerweile haben sich die ersten Rauchwolken gelichtet und es wird wieder nachgedacht. Manchem geht auf, dass der traditions-verbundene Fußball auch nicht so kommerzfrei war, wie man es sich idealerweise gewünscht hat und dass Jürgen Klopp auch in der neuen Position mit Leidenschaft junge Fußballtalente fördern kann.
Dennoch bleibt der bittere Nachgeschmack, dass Geld eine wichtige Rolle bei der Entscheidung gespielt hat. Geld stinkt eben nicht, regiert die Welt und hält sie am Laufen, so die langläufigen Einsichten des Volksmundes. Letztlich sind für viele Zeitgenossen Nachrichten wie die vom Wechsel des Meistertrainers Klopp zu einem Unternehmen Ernüchterung und Bestätigung, dass alles Engagement, Leidenschaft und Idealismus vom Geld gebrochen werden.
Das heutige Evangelium scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Ein junger Mann, in dem Jesus schnell das große Potential der Nachfolge entdeckt, scheitert am Geld bzw. am Verzicht auf das Geld. Der reiche Mann schätzt Jesu. Anders als die Pharisäer am vergangenen Sonntag, die Jesus mit der Frage nach der Ehescheidung konfrontieren, will er mit seinem Anliegen keine Falle stellen. Es geht ihm darum einen gelingenden Weg durch das Leben zu finden, den er vor Gott verantworten kann. Seine Lebensführung ist untadelig. Das erkennt Jesus an. Die Frage, ob er sich an die Gebote hält, kann er uneingeschränkt bejahen. Sicher könnte Jesus skeptisch werden, denn diese Bestätigung klingt vermessen. Wer kann von sich sagen, dass er alle Gebote befolgt? Aber Jesus erkennt, dass der junge Mann sich bemüht, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen und will ihm helfen, vollkommen zu werden. An diesem letzten Schritt aber scheitert er angesichts der Forderung, die Armen in den Blick zu nehmen und den eigenen Besitz loszulassen. Viele von uns können das Entsetzen der Jünger teilen, die darüber erschrecken, dass der Weg, den Gott für den Menschen vorgezeichnet hat, so radikal und bedingungslos aussehen soll. Wer kann das meistern? In der Frage der Jünger erkennt man die Sorge der nachösterlichen Gemeindemitglieder, die eben nicht wie Petrus und die anderen Apostel alles für Jesus verlassen hat, sondern noch immer Häuser und Acker besitzen.
Das Erschrecken wirft die Frage auf: Welches Problem haben die biblischen Schriften mit dem Geld? Scheinbar lehnen Jesus und die biblische Überlieferung materiellen Besitz radikal ab. Ist das so?
Ein Blick auf die Lesung aus dem Buch der Weisheit spricht eine andere Sprache. Der Autor, der von sich sagt, dass er die Weisheit mehr liebt als den Besitz, gilt als unermesslich reich. Die Tradition will als Urheber König Salomo, den für seine Weisheit, aber auch für sein Pracht und seinen Reichtum legendär gerühmten Sohn König Davids, ausmachen. Es ist kein armer Philosoph, der hier über die Schönheit des asketischen Lebens eines Denkers ins Schwärmen gerät. Salomo setzt die richtigen Prioritäten. Es geht ihm zuerst um Verstehen und Herzenswissen, das er sich von Gott erbittet. Daraus aber folgen für die Bibel auch Reichtum und Wohlstand, weil er die richtigen Entscheidungen trifft. Auch Jesus ist kein kämpferischer Reichen-Schreck. Seine Jüngergruppe hat eine gemeinsame Kasse, die von Judas verwaltet wird. Er kehrt bei reichen Pharisäern und Zöllnern ein und erzählt in seinen Gleichnissen von Gutsbesitzern, die unermesslichen Reichtum zur Verfügung haben. In der Auseinandersetzung um die Steuern gesteht er dem Kaiser seine Münzen zu, kritisiert aber auch das Fehlverhalten und die falsche Einstellung von Reichen, die Arme ausbeuten und alles tun, um die Kluft zwischen Besitzenden und Mittellosen zu vergrößern. Hier findet er harsche und vernichtende Worte. Für Jesus ist der Besitz von Geld im besten Sinne des Wortes „Vermögen“. Der Besitzende vermag mit seinen materiellen Gütern, Leben zu ermöglichen. Geld an sich ist moralisch neutral. Es kann dazu dienen, Freiräume zu schaffen und Gutes zu tun, oder aber zum Statussymbol zu werden und Macht zu symbolisieren. Jesus verteufelt das Geld nicht, aber er weiß um die Gefährdung, Geld nicht als Mittel zum Leben zu verwenden, sondern als Selbstzweck zu sehen. Dann eröffnet es nicht Freiräume, sondern versklavt. Dann wird Geld nicht mehr besessen, sondern es beginnt, vom Menschen Besitz zu nehmen, sein Denken und Handeln, sein Fühlen und sein Herz zu bestimmen. Diese Versuchung und Entwicklung kritisieren Jesus und die biblischen Schriften. Im Umgang mit Geld spiegelt sich wider, worin ich den Inhalt meines Lebens sehe: Wofür lohnt sich, Geld anzusammeln bzw. einzusetzen? Wird es so eingesetzt, dass es wirklich als Mittel zum Leben dient, also Bedürfnisse stillt und nicht nur mir dient, sondern auch anderen hilft? Oder geht es nur um Anhäufung von Geld, Macht und Vermögen. Die Grundfrage, an der sich jedes Urteil orientiert, ist letztlich: Besitze ich das Geld oder besitzt das Geld mein Herz und meine Seele? Gerade weil das letzte Hemd keine Taschen hat, soll die Großzügigkeit zum Kriterium des Umgangs mit Geld werden. Das Modell für eine freie Einstellung zum Besitz findet sich in der Gestalt des Zachäus, der einen Lernprozess durchmacht und spürt, wie viel mehr ihn die Begegnung mit Jesus im Gegensatz zu den Millionen von Goldmünzen, die er angehäuft hat, bereichert. Er hat am Ende keine Angst, mittellos zu werden, weil er das Mittel zum Leben gefunden hat: ein Leben mit Gott und für die anderen.
Und was ist mit dem jungen Mann im Evangelium? Nehmen wir einmal am, dass er enttäuscht über seine eigene Schwäche heimgeht, sich aber dennoch viele Gedanken macht, wie er so leben kann, dass er doch noch das ewige Leben gewinnt? Vielleicht heiratet er, gründet eine Familie, ist seiner Frau in Liebe und Treue verbunden und erzieht seine Kinder im Glauben an Gott und im Bewusstsein um ihre gesellschaftliche Verantwortung als begüterte Menschen. Er achtet weiterhin auf Gottes Gebote, unterstützt mit seinem Vermögen großzügig die Armen und engagiert sich in Initiativen, die das Leben von Menschen am Rande verbessern wollen. Ist das nicht auch ein Weg zum ewigen Leben? Aus den Worten Jesu hat er gelernt, dass er sich das Leben bei Gott mit seinem Verhalten nicht erkaufen kann. Das ist unmöglich. Aber er bekommt es von Gott geschenkt. Denn für Gott ist nichts unmöglich, nicht einmal, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr passt. Wer sich trotzt allem Können vor Gott als mittellos weiß, kann gute Hoffnung haben, dass ihm das Leben in Fülle geschenkt wird.
Für uns als Christen im 21. Jahrhundert, dessen Wohlergehen so sehr von globalen Finanzsystemen und Wirtschaftsverflechtungen dominiert wird, dass man den Eindruck haben kann, dass Geld die Welt regiert, ist es zunächst der Schritt einer inneren Versöhnung: Geld als solches und auch das Wirtschaften sind nicht schlecht. Es geht vielmehr um ethische Fragen und eine innere Prüfung: Wer besitzt wen, ich das Geld oder das Geld mich? Vermag mir mein Besitz zu helfen, so zu leben, wie ich es als sinnvoll und verantwortlich erkenne, also nicht nur meine eigenen Wünsche zu erfüllen, sondern auch zu helfen, wo ich mich in der Pflicht sehe? Oder bin ich geizig und strebe nach Geld um des Geldes willen? Ganz sicher darf auch nicht die Frage vergessen werden, woher mein Geld kommt und wie es arbeitet? Ist es gerecht verdient und sind meine Geldanlagen so ausgelegt, dass sie nicht zu Lasten von anderen Menschen und er Schöpfung gehen. Nach biblischer Vorstellung sind die Güter der Erde Gottes Geschenk an die gesamte Menschheit und die Welt das Lebenshaus für alle. Die Regel für das Zusammenleben ist nicht Mitleid, sondern Solidarität, also das Wissen, dass ich dem anderen Menschen verpflichtet bin, weil wir miteinander in dieser Welt leben. Wie der junge Mann sind wir nicht unrettbar verloren, aber wir müssen immer darauf achten, dass wir unser Herz nicht an den Besitz hängen, denn sonst bleiben wir stecken wie das Kamel im Nadelöhr. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.
27. Sonntag B / Erntedank "Was mein Leben reicher macht"
Predigt 27. Sonntag im Jahreskreis B „Was mein Leben reicher macht“
Liebe Schwestern und Brüder
Seit vielen Jahren schließt die Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ auf ihrer letzten Seite mit der Rubrik „Was mein Leben reicher macht“. Leser können dort kurze Erzählungen von Erlebnissen aus ihrem Alltag posten, die dann einer großen Leserschaft einen ermutigenden Impuls geben soll, selbst auf die Momente zu achten, die das eigene Leben reicher machen.
In der letzten Ausgabe fand ich z.B. den Bericht einer Frau aus Schleswig-Holstein, die sich erinnert: „Am frühen Vormittag stehe ich am Empfang der Praxis, in der ich für eine Endoskopie angemeldet bin. Die freundliche Mitarbeiterin stellt mir noch ein paar Fragen zur Vorbereitung – und als letzte: Brauchen Sie eine Krankmeldung für den heutigen Tag – Ich bin vor zwei Wochen achtzig geworden.“
Und eine jüngere Frau aus Solingen erzählt: „Auf meinem morgendlichen Spaziergang grüße ich einen entfernten Nachbarn in seinem Garten. Er fragt, ob ich ein paar Nüsse haben wolle, und legt mir auch gleich drei Exemplare in die Hand: »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel!«, sagt er. Die trage ich nun stets in meiner Tasche bei mir – und fühle mich wie eine Prinzessin.“ (DIE ZEIT 42 /2024).
Aber nicht nur kleine humorige Anekdoten füllen die Spalte, manchmal sind es wirklich Begegnungen, die Hilfe für das Leben bereithalten. So dankt eine Frau mittleren Alters dafür, „(D)ass unser alter Pastor bei der schweren Beisetzung meiner Nichte, die mit 13 Jahren plötzlich verstarb, so tröstliche Worte für unsere Familie fand.“ (DIE ZEIT 32/2021)
„Was mein Leben reicher macht“ Es ist gut, dass Leser mit anderen Menschen teilen, wofür sie dankbar sind. Sie inspirieren mich und andere, selbst nachzudenken, was unser Leben reicher macht und wofür wir danken können. Es geht dabei nicht um einen Reichtum, den man auf dem Bankkonto sieht oder der sich in materiellen Werten ausdrücken kann. Es geht um Lebensfreude, Sinnfindung, Hoffnung und die Dankbarkeit für das, was mein Leben schön und lebenswert macht.
„Was mein Leben reicher macht?“
Wahrscheinlich werden viele von uns aus dem Stand Ereignisse aufzählen können, die diese Frage erschöpfend beantworten. Manchmal sind diese Erfahrungen mit Naturerlebnissen verbunden: Der herbstliche Spaziergang bei Sonnenschein mit Freunden; die Wanderung in den Bergen mit Besteigen eines Gipfels in den Alpen oder einer Höhe in der Rhön, die wunderbare Ausblicke öffnen; der Blick auf das spiegelnde Wasser eines Sees oder Meers, die Ruhe und Glanz ausstrahlen. Die Bilderspeicher unserer Handys und unsere Fotoalben sind voll von solchen Eindrücken. Zumeist aber sind es Begegnungen, Beziehungen und Gemeinschaftserlebnisse, die uns sagen lassen: „Das hat mein Leben bereichert.“
Ein älterer Leser erzählt: „Eine E-Mail von einem hundertjährigen Freund, der sich vor ein paar Monaten einen Tablet-Computer gekauft hat und neulich fragte: „Sag, bist du bei Whats-App?“ Wahrscheinlich würden wir anfügen: „Die WhatsApp meine Tochter, die in München studiert, und sich darauf freut, nächstes Wochenende heimzukommen“; „der Abend, an dem unser Sohn uns mitgeteilt hat, dass er und seine langjährige Freundin im nächsten Jahr heiraten werden“; „der Augenblick, in dem uns die Schwiegertochter erzählt, dass wir Großeltern werden.“ Viele große und kleine Begebenheiten mit anderen Menschen, v.a. unseren Familien, lassen uns glücklich werden und machen unser Leben reicher.
Wir feiern heute das Erntedankfest. Es will uns zeigen, aber auch nachdenken lassen, was das Leben reicher macht. Die Kirchen sind geschmückt mit der ganzen Vielfalt der Natur, mit allem, was in Gärten und auf Feldern, durch die Kräfte der Natur und die Mühe des Menschen gewachsen ist. Bunte Erntedankaltäre gibt es zu sehen und der Duft von Obst und Gemüse, Brot und Blumen liegt in der Luft. Es ist ein Fest für die Sinne und eines zum Besinnen, gerade auch für unsere technisierte Welt. Die Rhythmen der Natur, das Säen, Wachsen, Reifen und Ernten – das alles ist weiterhin bestimmend für unser Leben. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der Schöpfung und allen Geschöpfen ist kein »grünes Hobby« oder ein »Öko-Spleen«, sondern fordert die Weltgemeinschaft in vielfacher Weise. Die Folgen des Klimawandels stehen dabei wohl an erster Stelle, aber auch immer wieder neue Lebensmittelskandale oder die Verantwortung für jene, die ums nackte Überleben kämpfen müssen. Erntedank ist darum auch heute noch oder vielleicht sogar mehr denn je aktuell und wichtig. Und immer schon hat das Erntedankfest den Kreis weit gezogen: Der Mensch soll dankbar auf das schauen, was ihm gegeben ist, aber auch auf das, was ihm dadurch alles möglich ist, was er schaffen, leisten, anstoßen und bewegen kann. Erntedank will bewusst machen, was das Leben reicher macht.
„Was kostet es?“, das ist eine der häufigsten Fragen, die wir im Alltag stellen. Für vieles, was wir im Leben brauchen, müssen wir bezahlen, nicht nur für materielle Güter, auch für schöne Momente: Reisen, Feiern oder Kultur. Aber nicht diese materiellen Dinge machen uns wirklich reich, sondern die unbezahlbaren Erlebnisse, die wir auf einem gemeinsamen Ausflug mit den Kindern oder den Eltern geschenkt bekommen. Das Wertvollste in unserem Leben bekommen wir geschenkt, daran erinnert uns das heutige Erntedankfest. Reich werden wir, weil andere uns durch ihre Liebe, ihre Freundschaft, ihre Treue bereichern, nicht weil wir uns an ihnen bereichern, sie für uns ausnutzen. Gerade die Familie und die Partnerschaft, die in unserer heutigen Gesellschaft oft problematisiert werden angesichts der steigenden Zahlen von Trennungen und der wachsenden Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, sind immer noch die Orte, an denen Menschen das Kostbarste entdecken, das sie im Leben finden können, und spüren, was das Leben reich macht.
Davon spricht auch das heutige Evangelium, das ja Ehe und das Leben mit Kindern verbindet. Jesus sprengt das rein rechtliche und institutionelle Denken der Pharisäer im Blick auf die Ehe. Sie ist nicht einfach eine Zweckgemeinschaft. Menschen schließen keinen Vertrag zum beiderseitigen Nutzen. Sie nehmen einander vorbehaltlos an in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit. Sie schenken einander so Vertrauen, Zuversicht und Bestätigung. Ein Mensch sagt ohne Einschränkungen „Ja“ zu mir trotz aller meiner Unzulänglichkeiten, um die ich oft besser weiß als jeder andere. Kann mein Leben reicher werden?
Jenseits der theologischen Auseinandersetzungen im Blick auf das Scheitern einer Ehe und die damit verbundene Frage, ob ich nicht in einer zweiten Partnerschaft glücklich werden kann, was ich durchaus nachvollziehen kann, möchte ich mit Blick auf die Haltung Jesu heute dafür plädieren, die Liebe zwischen zwei Menschen, wie auch immer sie sich gestaltet, als ein Geschenk der Liebe Gottes zu deuten und nicht in der ständigen Sorge zu leben um das, was alles gehen kann. Partner wissen selbst um die Herausforderungen, die auf sie zukommen. Es gibt das kluge Wort: „Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf der Erde gelebt.“ Ich muss als Seelsorger nicht ständig mit gerunzelter Stirn alle Gefahren aufzählen, die auf zwei Menschen warten können, die sich aneinanderbinden, oder die Familien begleiten, in den Kinder aufwachsen, älter werden und lernen, ihren eigenen Weg zu gehen. Vielmehr ist es mein Anliegen, junge Menschen, aber auch lang verheiratete Ehepaare zu ermutigen, in ihrer Partnerschaft das Glück für ihr Leben zu suchen und zu finden. Darum ist Erntedank ein guter Anlass, einfach Dank zu sagen, dass Partner einander haben und ihnen von Gott her zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit gegeben wird, das miteinander glücklich zu sein und es in jeder Altersstufe immer neu zu werden.
Es ist m.E. auch eine Pflicht der Kirche, Dank zu sagen für das Geschenk von Ehe und Familie, in denen Kinder noch immer lernen, was für das Leben wirklich zählt und was sie stark macht für die Zukunft. Ehe und Familie sind heute vielgestaltig geworden, aber sie bleiben die beiden Quellen des Glücks und der Zukunft des Menschen.
Vielleicht nehmen Sie in diese Woche die Frage mit „Was macht mein Leben reicher?“ Schön wenn Ihnen dann als erstes die Menschen einfallen, die sie lieben und die für sie da sind. Sie spiegeln Gottes unbegrenzte Liebe zu uns Menschen wider. Amen.
(Sven Johannsen, Pfr.)
Predigt_27._Sonntag_B_Erntedan_Was_mein_Leben_reicher_macht.pdf
26. Sonntag B "Against all Gods - Die Glaubens-WG
Predigt 26. Sonntag B „Against all Gods – die Glaubens-WG“
Liebe Schwestern und Brüder
Ziehen ein Muslim, eine Katholikin, ein Jude, eine Hindu, ein Buddhist und eine Atheistin in eine gemeinsame WG – Nein, so beginnt kein Witz mit lustiger Pointe. Das ist in kurzen Worten der Rahmen für die Doku-Serie „Against all Gods“, die zurzeit Sonntagmorgens im ZDF ausgestrahlt wird.
Gloria, eine sorbische Katholikin und regelmäßige Kirchgängerin, Lars, gläubiger Jude, Jurastudent und Musiker, Omar, praktizierender Muslim und ausgebildeter Erzieher, Saghita, Buchhalterin und Hinduistin, begeisterte Tempeltänzerin, Dharmasara, eigentlich ohne Religion in Ostdeutschland geboren, aber nach einem Japan-aufenthalt Buddhist geworden, und schließlich Josimelonie, Influencerin, Transfrau und Atheistin, die Religionen für die Ursache der Konflikte und Kriege hält, ziehen für sechs Tage in eine Wohngemeinschaft in Berlin und verbringen eine Woche unter einem gemeinsamen Dach mit dem Ziel, nicht übereinander, sondern miteinander zu reden. Alle sind zwischen Mitte 20 und Anfang 30, also junge Menschen, die sich bewusst für ein Leben mit ihrer Religion bzw. Weltanschauung entschieden haben. Die Autorin der Reihe, Katharina Reinartz, erklärt die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: „Wir wollten, dass es Menschen sind, die ganz fest in ihrem Glauben stehen, sehr überzeugt sind von ihrem Glauben, aber dass man trotzdem den Eindruck und die Überzeugung bekommt, das sind trotzdem Menschen, die im Jahr 2024 leben. Es ist nicht schwarz und weiß, es gibt ganz viel Grau.“ (www.domradio.de v. 1.9.2024). Begonnen hatte das „Religions- und Toleranz-Experiment“ mit einem Abendessen. Die Protagonistinnen und Protagonisten wurden in ein Restaurant eingeladen zu einem festlichen Menü. Die Redakteure wollten sehen, ob überhaupt ein Gespräch zwischen ihren Gästen entsteht oder ob sie sich ignorieren und anschweigen. Am Ende wurde es zu einem Abend, „von dem man sich wünscht, dass er nicht endet“: lustig, interessant und weiterführend. So wagten die Macher den Schritt und luden zu dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft ein. Es wurde keine extravagante Variante von Big Brother, in der gläubige Menschen als Fanatiker in der Öffentlichkeit bloßgestellt werden sollten, sondern ein Sozialexperiment mit Tiefe, Dichte und gesellschaftlicher Relevanz. Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein. In der ersten Folge wurden die TeilnehmerInnen mit der Frage konfrontiert: „Ist mein Glaube der einzig richtige?“ Sie haben nicht einfach abgewiegelt, dass es egal ist, welchen Glauben man hat, sondern sich dazu bekannt, dass sie ihren Glauben als wertvoll und passend für sich sehen. Sie teilen die Grundhaltung: Für mich ist der Glaube richtig, ich bin in ihm verwurzelt, aber ich urteile nicht über die Vorstellung der anderen. Es gab auch ernste Auseinandersetzungen um manche Themen, die die Redakteure als Impuls in das Gespräch der Gruppe warfen. Manchmal war die Diskussion vorprogrammiert, z.B. bei der Diskussion zwischen der gläubigen Katholikin Gloria und der atheistischen Transfrau Josy um die Ehe für Alle. In einer der letzten Folgen drohte der Streit zwischen dem Muslim Omar und dem Juden Lars angesichts der Nahost-Konfliktes zu eskalieren. Dennoch, so die Macher, hat sich gezeigt, dass man sich an einen Tisch setzen und Themen ausdiskutieren kann. Katharina Reinartz zieht über die Glaubens-WG das Fazit: „Es zeigt auch, dass es irgendwie mehr gibt, was einen eint, als die Dinge, die einen trennen. Das war total schön zu sehen. Aber ja, es gab Streit und den sollte es auch geben, den durfte es geben. “
Was mit Blick auf die gewalttätigen Konflikte und brutalen Terrorakte, die oft im Namen der Religion ausgeübt werden, kaum vorstellbar scheint, beweisen sechs junge Menschen: Ein friedliches Zusammenleben der Religionen ist möglich. Die junge Katholikin Gloria beschreibt auf der Homepage des ZDF ihre Haltung so: „Als Katholikin vertrete ich eine konservative Glaubensrichtung. Ich glaube, das kann bei vielen erst mal auf Unverständnis treffen. … Ich hoffe, dass man sich verträgt, obwohl man unterschiedliche Glaubens-hintergründe hat – ich finde, das ist ein sehr wichtiges Zeichen in der heutigen Gesellschaft. Es geht nicht darum, dass alle gleich sein sollen, sondern dass Vielfalt ein gutes Miteinander hervorbringen kann."
„Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“, so bremst Jesus im heutigen Evangelium die übereifrigen Jüngerinnen und Jünger aus, die gegen einen Heiler vorgehen wollen, der im Namen Jesu Machttaten vollbringt, aber nicht zu ihrer Gruppe gehört. Vielleicht ist Ihnen eine Feinheit in der Erzählung aufgefallen: Die Jünger zeigen bei Jesus an, dass jemand in seinem Namen Dämonen austreibt und dass sie versucht haben, ihn daran zu hindern. Ihre Begründung dafür lautet aber, dass er „uns“ nicht nachfolgt und nicht, dass er „dir“ nicht nachfolgt. Es geht nicht darum, dass dieser Mensch nicht Jesus anerkennt, sondern dass er nicht der Jüngergruppe folgt und somit in ihre Kompetenz eingreift. Deshalb wollen die Jünger den Heiler stoppen. Die Jünger stehen wie in der ersten Lesung Josua für Abgrenzung, Jesus aber nimmt die Tradition des Moses auf und lehrt sie Weite. Er hat keine Angst vor Menschen, die nicht in seiner Nachfolge stehen, wenn sie sich für das Gute einsetzen und Menschen Gutes tun. Er öffnet seine Jünger für die Einsicht, dass das Ziel des Evangeliums nicht die Vergrößerung des Einflusses der Jüngergruppe, also der Kirche, sein kann, sondern das Anliegen, die Frage nach Gott in der Welt wachzuhalten. Dafür verbindet er sich mit Menschen, die auf den ersten Blick nicht viel mit ihm zu tun haben, aber sich einsetzen für die gleiche Idee. Gerade in unserer Zeit, in der Exklusivrechte an der Wahrheit sehr energisch von Einzelpersonen, gesellschaftlichen Gruppen und Parteien reklamiert werden, lädt die Haltung Jesu zu Gelassenheit und Weite ein. In einer Kirche, in der entgegengesetzte Strömungen einander gerne das Attribut „katholisch“ streitig machen, mahnt er zur Einsicht, dass es nicht um die Gruppe, Richtung oder Lehre geht, sondern um die heilende und befreiende Erfahrung Gottes im Leben von Menschen. Dafür hat das Evangelium immer schon Sympathisanten auch außerhalb des engeren Kreises der Christgläubigen gefunden. Einer der berühmtesten Jesusverehrer war Mahatma Gandhi, der in Jesus einen der größten Lehrer der Menschheit erkennen konnte und sein Evangelium der Seligpreisungen zur Orientierung für seinen Weg der Gewaltlosigkeit nahm, aber niemals ihn als Gott anerkannte. Schon Mose konnte erkennen, dass der Geist Gottes weht, wo er will, und nicht nur dort, wo wir ihn haben möchte. Jesus fordert daraus eine Haltung, die ich in der Glaubens-WG wiedererkenne, die das Gute in den anderen Menschen, ob religiös oder humanistisch geprägt, anerkennt und teilt, ohne dass ich meinen eigenen Glauben verleugnen muss.
Während der erste Abschnitt des heutigen Evangeliums diese Perspektive der Weite verkündet, scheint dagegen der zweite Abschnitt gegenteilig zu argumentieren. Er wirkt streng und rigid. Das Abschneiden von Körperteilen und Gewalt gegen sich selbst erscheinen uns als Praktiken fanatischer Strömungen und nicht als Ausdruck christlichen Verhaltens. Selbstverstümmelung um des Reiches Gottes willen wurde immer von der Kirche abgelehnt. Diese radikalen Aufforderungen Jesu werden nur verständlich von Jesu Sorge um „die Kleinen“ her, mit der er diesen zweiten Teil einleitet. „Die Kleinen“ sind die Menschen, die an ihn glauben und die ernst machen mit der Aufforderung vom letzten Sonntag „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ Jesus hat die Menschen im Blick, die ihm mit Ernsthaftigkeit nachfolgen wollen. Sie sind unantastbar. Niemand darf sie im Glauben verunsichern oder für sich vereinnahmen. Sie wollen der Weisung Jesu folgen. Niemand darf diese durch eigene Lehren verwässern oder radikalisieren. Weder durch Anpassung an den Zeitgeist noch durch übertriebene Strenge dürfen Lehrer und Leiter in der Kirche den Blick auf die wahre Absicht Jesu verstellen und so Menschen in ihrem Glauben erschüttern. Es geht Markus im Evangelium um den Frieden in der Gemeinde, der durch Egoismus gestört werden kann. Wo der Blick auf den Willen Jesu verstellt wird durch Parteiungen und Eigeninteressen leidet der Leib Christi, wie Paulus die Kirche beschreibt. Es geht in diesen radikalen Forderungen nicht um moralische Perfektion, sondern darum, dass die Einheit in der Gemeinde Jesu gewahrt bleibt. Wir sollen einander im Glauben und Vertrauen an Gott stärken und nicht erschüttern. Diese Aufgabe ist gleichsam die Innenperspektive der Glaubensstärke, die erst die Haltung der Weite, die Jesus im ersten Teil fordert, möglich macht.
Paulus sagt seiner Gemeinde in Korinth zu: „Wir sind ja nicht Herren über euren Glauben, sondern Helfer zu eurer Freude. Denn im Glauben seid ihr stark.“ Für eine Gemeinde ist diese Sicht eine Richtschnur: Wir haben dem anderen nicht unseren Glauben aufzuzwingen, sondern einander im Glauben stark zu machen durch unsere Gemeinschaft im Gottesdienst, durch Gespräche und ein einladendes Gemeindeleben, das viele Menschen einlädt und offen ist für die Bereicherung auch durch Menschen, die von außen kommen. Unter Gottes Dach haben viele Platz. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer
25. Sonntag B Warum gibt es Krieg
Predigt 25. Sonntag B – 22.9.2024 „Warum gibt es Krieg“
Liebe Schwestern und Brüder
Muss ein Kind wissen, was eine Streubombe ist? Wie die Nato aufgebaut ist? Ob Soldatinnen und Soldaten auch Angst haben? Vielleicht spüren Sie wie ich eine innere Hemmschwelle bei der Frage, ob man mit Kindern über das Thema „Krieg“ reden soll? Ich bin als Pfarrer 25 Jahre an Grundschulen und KiTas tätig und natürlich waren „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ immer zentrale Themen im Unterricht. In der Regel aber standen nicht die Kriege und Konflikte im Mittelpunkt, sondern Geschichten über Toleranz, Geschwisterlichkeit, Versöhnung als Lösungswege im Vordergrund. Ein neues Vorlese- und Bilderbuch der renommierten Psychologin Elisabeth Raffauf (Wann ist endlich Frieden, Sauerländer 2023) für Grundschulkindern fokussiert sich v.a. auf die Themenfelder „Krieg“, „Flucht“, „Terror“, „Angst“. Das Kinderbuch wird von der Presse sehr gelobt und ist nur ein Beispiel für ein wachsendes Segment im Bereich Bilderbücher. Die Sprache ist sachlich und leicht verständlich, aber auch klar und beschönigt nicht. In einem Glossar nimmt die Autorin Worte auf, die Kinder im Augenblick in Gesprächen oder in den Medien aufschnappen, so dass „Sexuelle Orientierung“, „Drohne“, „Panzerhaubitze“ neben „Demokratie“, „Solidarität“ und „Grundgesetz“ stehen. Noch vor einigen Jahren hätten wir Begriffe wie „Amok“, „Streu-bombe“ oder „Bündnis“ allein dem Wortschatz von Erwachsenen Menschen zugeordnet, aber spätestens seit den Konflikten in Syrien, in der Ukraine und im Gaza-Streifen lassen sich die großen Konflikte vor Kindern nicht mehr verheimlichen. Sie verunsichern Kinder genauso wie Erwachsene. Vielleicht mussten Sie selbst auch schon versuchen, Ihren Kindern, Enkeln oder gar Urenkeln zu erklären, warum es in der Welt so viel Gewalt gibt und so viele Menschen aus ihren Heimatländern flüchten müssen, weil sie Opfer von Krieg und Terror wurden. Dann waren und sind Sie mit der Grundfrage konfrontiert, die der Autor des Jakobusbriefes heute aufwirft: „Woher kommen Kriege bei euch, woher Streitigkeiten?“
Auch in einer Gemeinde, die ganz vom Geist Jesu und der Seligpreisungen erfüllt sein sollte, gibt es Konflikte und Menschen sind konfrontiert mit Gewalt, Terror und Krieg, die sie verunsichern und verängstigen. Dem Apostel ist bewusst, dass keines seiner Gemeindemitglieder verantwortlich für einen Kriegsausbruch ist. In der frühen christlichen Gemeinde sammeln sich nicht große Staatsmänner. Dennoch konfrontiert er seine Leser und Zuhörer in der Suche nach einer Antwort mit ihren eigenen Schwächen: Es gibt Eifersucht und Streitsucht. Im Grunde sind Konflikte auf allen Ebenen auf diese beiden Übel zurück-zuführen, denn sie schaffen Unordnung und Feindschaft und schwächen Gerechtigkeit und Bescheidenheit, also die Eigenschaft, dem anderen zu gönnen, dass er Glück hat oder mehr besitzt als ich. Natürlich erscheinen uns diese Antworten etwas naiv. Weltpolitik, gerade im Nahen Osten, ist komplexer, aber letztlich sind es doch immer wieder die gleichen menschlichen Schwächen, die in einem undurchschaubaren Netz von nicht auflösbaren Knoten durchschimmern: Angst vor dem Fremden, der mein Wohlergehen bedroht, Eifersucht auf den Nachbarn, dem es scheinbar besser geht als mir, und der Wille, sein „Recht“ durchzusetzen und zu erreichen, was einem nach eigener Vorstellung zusteht, ggf. auch auf Kosten des Anderen, dem es dann schlechter geht. Die Versuchung, diesem Denken zu erliegen, macht auch vor dem gläubigen Menschen nicht halt. Daran erinnert die erste Lesung aus dem Buch der Weisheit. Auch die Frevler in der Lesung waren einmal gläubig und kennen den Willen des Herrn. Das Buch der Weisheit richtet sich an Juden in der Diaspora. Viele leben jetzt im Milieu einer anonymen Großstadt und haben ihre religiösen Wurzeln gekappt. Es zeigt sich, dass man auch ohne die Einschränkungen durch biblische Vorgaben glücklich werden kann, ja sogar erfolgreicher in wirtschaftlichen Dingen, wenn ich Skrupel hinter mir lasse und Grenzen überschreite, die die Gebote Gottes gesetzt haben. Der, der Gott überwunden hat, triumphiert offensichtlich über den „Treuen“, der sich an die Gebote hält und Rücksicht übt. Die Grundvoraussetzung ist für beide gleich: Die Güter der Welt sind begrenzt und das Leben ist endlich. Die Wege auf diese Erkenntnis zu reagieren, unterscheiden sich aber wesentlich. Ich kann aus der Begrenztheit der Welt und des Lebens schließen, dass ich das Beste für mich rausholen und mitnehmen muss, was mitzunehmen geht. Dann muss ich zwangsläufig auf Kosten der anderen Menschen leben, die sich wehren werden, so dass es zu Streit und Krieg kommt. Oder ich sehe die Begrenztheit in einem größeren Horizont, nämlich im Rahmen der Ewigkeit Gottes, die die Angst überwindet, zu kurz zu kommen. Bescheidenheit erwächst nicht aus der Angst vor Gottes Strafe, sondern ist Ausdruck von Weisheit, wie es die beiden Lesungen nahelegen. Bescheidenheit ist gelebte Hoffnung, die über das unausweichliche Ende hinausschreitet. Dem Jakobusbrief liegt die Überzeugung zugrunde, dass der richtige Glaube den richtigen Lebenswandel braucht. Der Mensch, der an die Auferstehung Jesu glaubt, kann nicht im Tod die letzte Station sehen, an der sich entscheidet, ob mein Leben erfolgreich war. Jakobus geht es um ein gutes und gelingendes Leben. Das aber gedeiht nur in Übereinstimmung mit der „Weisheit von oben“, also jenem inneren Wissen des Herzens, dass es ein Mehr gibt, als alle irdischen Überlegungen uns erkennen lassen. Es gibt Zeichen für das Leben in Fülle, das Gott uns bereithält, und wenn das Herz sie angemessen deutet und bedenkt, kommt es zu der Hoffnung, die das Leben, das Leid und den Mangel überschreitet. Eifersucht und Streit hängen wesentlich mit einer verkürzten Sicht unseres Lebens zusammen. Die Weisheit von oben, die Gelassenheit schenkt, öffnet für einen größeren Blick. Es geht nicht um Vertröstung, sondern um Versöhnung schon in diesem Leben, die dem Menschen die Bitterkeit aus dem Herzen nimmt und ihn zum Frieden fähig macht.
Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage: Soll man mit Kindern über Krieg reden? Ganz sicher darf man ihnen nicht Antworten auf Fragen aufzwingen, die sie nicht gestellt haben, aber man darf ihnen keine Antwort verweigern auf die Fragen, die sie haben. Ausflüchte oder Abwiegeln wie z.B. „Das verstehst du noch nicht“ helfen nicht. Kinder treffen in unseren Kitas und Schulen Geflüchtete, die Schreckliches erlebt haben. Sie spüren die Sorgen und Ängste ihrer Eltern. Sie ahnen auch, dass die Bedrohung für uns selbst real geworden ist. Kinder brauchen einen Raum für Ihre Eindrücke, Fragen und Ängste. Sie dürfen auch erleben, dass wir Erwachsenen Angst haben, aber sie merken schnell, wenn man sie nicht ernst nimmt oder sie täuscht. Die Psychologin Elisabeth Raffauf, deren Buch nicht beim Krieg stehen bleibt, sondern Wege aufzeigt, wie Frieden gelingen kann, schreibt im Nachwort: „Wenn Kinder etwas in Worte fassen können, macht es sie sicherer und stärker. Das gilt auch für schwierige, angstmachende Ereignisse.“
Für mich kommt noch eine zweite Perspektive hinzu, die unseren Glauben, die Weisheit von oben, betrifft. Der Theologe und Therapeut Peter Wendl schreibt in einem Beitrag für Christ in der Gegenwart: „Die Art und Weise, wie Erwachsene mit schwierigen Themen umgehen, hat Vorbildfunktion und gibt Kindern Orientierung. Angst, die nicht kommuniziert wird, macht hilflos und handlungsunfähig. Das Angst-machende zu verdrängen, reduziert langfristig keine Belastung, übrigens in keinem Lebensalter.“
Unser Reden und Verhalten zeigen, ob wir Panik oder Gelassenheit in uns tragen. Wir können auch im Gebet für Menschen in Kriegssituationen zeigen, ob wir Hoffnung haben oder nicht. Ich bin nicht sicher, ob Kinder wissen müssen, was Streubomben sind, aber wohl sollen sie merken, ob wir in dieser bedrohten Welt Menschen der Zuversicht sind. Kinder können aus unserem Gottvertrauen herauslesen, ob wir Menschen der Hoffnung sind oder ob wir schon alle Hoffnung verloren haben und nur noch um das Überleben kämpfen. Es ist die Weisheit von oben, nicht vorgetäuschte Zuversicht, wenn wir daran glauben, dass Frieden möglich ist und diese Hoffnung vorleben. Amen
Sven Johannsen, Pfr.
24. Sonntag B Geduld mit Gott
Predigt 24. Sonntag im Jahreskreis "Geduld mit Gott"
Liebe Schwestern und Brüder
Es gibt Menschen, mit denen muss man viel Geduld haben: Kinder, denen Eltern hundertmal erklären, wie man sich am Essenstisch verhält; Schülern, denen der Lehrer immer wieder versucht, die Geheimnisse der Mathematik oder der lateinischen Sprache zu erschließen; Lehrlinge, die sich schwertun mit Abläufen und Prozessen. Manche Menschen strapazieren unsere Geduld über die Maßen: nervige Nachbarn, die immer wieder die Grenzen der erträglichen Lautstärke überziehen; geschwätzige Mitmenschen, denen man eigentlich aus dem Weg gehen will, weil man sonst zum Opfer von langen Tratsch-Geschichten wird; Hypochondern, die uns mit ihren (eingebildeten) Krankheiten die Zeit stehlen. Wenn man nicht ständig kurz vor dem Explodieren stehen will, muss man mit den Menschen Geduld haben. Muss ich auch mit Gott Geduld haben?
Das klingt ungewöhnlich. Aber eben diesen Titel hat schon vor einigen Jahren der Priester und Religionswissenschaftler Thomas Halik einem Buch über die Geschichte des Zachäus gegeben: „Geduld mit Gott“ (Herder-Verlag Freiburg; 5. Auflage 2012). Er beginnt sein Buch provokant mit dem Eröffnungssatz: „Mit Atheisten stimme ich in vielen überein, in fast allem – außer ihrem Glauben, dass es Gott nicht gibt“ (Thomas Halik; Geduld mit Gott, Freiburg 2012; S. 9) Thomas Halik misstraut fundamentalistischen Strömungen im Christentum, die immer alle Fragen gelöst sehen wollen. Vielmehr muss er feststellen: „Mit Atheisten bestimmter Prägung kann ich die Wahrnehmung der Abwesenheit Gottes in der Welt nachvollziehen.“ Er schränkt dann aber ein: „Ich erachte ihre Deutung dieses Gefühls jedoch für übereilt – nämlich für einen Ausdruck von Ungeduld.“ Wenn es im Horizont des Glaubens um die großen Fragen des Lebens geht, v.a. um die Frage nach dem Leid, dann treffen wir in der Regel auf zwei konkurrierende Antworten. Die eine versucht Gott freizusprechen und die Schuld für das Leid beim Menschen zu suchen oder zu vertrösten auf eine bessere Welt. Die andere sieht im Leid einen Beweis, dass es einen guten und allmächtigen Gott nicht geben kann. Beide Wege versuchen letztlich, das Problem der Frage nach Gott angesichts des Dunkels und des Leids sofort zu lösen. Aber Gott ist kein Problem, das sich uns stellt und wir beseitigen müssen, sondern ein Geheimnis, in dem wir verweilen und das wir aushalten. Das ist die Perspektive eines reifen Glaubens. Weder ist die Leugnung Gottes ein Zeichen von besonderer Intelligenz, noch ist seine fanatische Rechtfertigung ein Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Beide offenbaren die Ungeduld, die dem Geheimnis des Lebens nicht gerecht wird. Thomas Halik schriebt „Das Schweigen Gottes und die beklemmende Gottesferne bedrängen oft auch mich… Ich kenne drei (tief miteinander verbundene) Arten von Geduld angesichts der Abwesenheit Gottes: es sind dies Glaube, Hoffnung und Liebe.“
Muss man mit Gott Geduld haben? Fragen wir heute den Petrus im Evangelium.
Er ist im Markus-Evangelium nie nur einfach eine historische Person, sondern immer ein Modell des Glaubens, der Beziehung zwischen Gott und dem Jünger / der Jüngerin Jesu. Er begibt sich heute auf eine Achterbahn seiner Gefühle und seines Verhältnisses zu Jesus. Wir erleben ihn als den glaubensstarken Sprecher der Kirche gegenüber ihrem Herrn und nur wenige Zeilen später als den Kontrahenten Jesu, der ihn anherrscht und von ihm scharf zurechtgewiesen wird. Wie konnte es zu diesem Stimmungsumschwung kommen? In der Ungeduld, von der Halik redet, finde ich die Antwort.
Er ist der treue Zeuge. Die Szene in Caesarea Philippi ist uns noch mehr vertraut aus der Schilderung des Matthäus, der dem Bekenntnis des Petrus „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ die Zusage Jesu folgen lässt: „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (vgl. Mt 16,18). Die Jünger haben viel mit Jesus erlebt. Der Weg um den See Genezareth war gefüllt von Heilungen, Wundern, Redeschlachten mit den stets unterlegenen Pharisäern und Schriftgelehrten und einer neuen Erfahrung von Gemeinschaft, so dass sie bereits den Anbruch des Reiches Gottes spüren konnten. Petrus fasst diese Überzeugung all derer, die Jesus folgen, zusammen und spricht für sie und uns das Bekenntnis: „Du bist der Gesalbte Gottes, der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Mit dir leben wir schon in einer neuen Wirklichkeit.“ Es gibt Phasen der Sicherheit im Glauben, in denen wir uns Gott ganz nahe fühlen: Augenblicke des Gebetes, stimmungsvolle Gottesdienste, Erfahrungen in der Natur, Glücksmomente in der Familie und in der Partnerschaft. Immer dann, wenn alles im Lot ist, wissen sich Menschen Gott sehr nahe, ahnen bereits etwas von seinem Himmel. Kein Wunder, dass Petrus sich nicht aus dem Reich Gottes vertreiben lassen will, das er schon betreten hat. Der Gedanke, dass alles zusammenbrechen könnte und das Böse neu siegen kann, ist unvorstellbar. Er hört aber nicht richtig hin. Das letzte Wort in der Leidensankündigung Jesu, das die Auferstehung als Ziel vorgibt, kommt bei ihm nicht an, weil die Vorhersage des Leidens und des Todes ihn aus der Bahn zu werfen drohen. Wie kann der, den er gerade als Sohn Gottes bekannt hat, den Weg des Leidens und der Ohnmacht gehen. Das ist in seiner Gottesvorstellung schon nicht nachvollziehbar, noch mehr aber fordert es ihn heraus in seinem Vertrauen in Jesus. Kein Mensch will, dass ein anderer Mensch leiden muss, v.a. nicht, wenn er uns in Liebe verbunden ist. Die erschreckte Reaktion des Petrus ist emotional nachvollziehbar. Aber sie geht noch weiter: Das Kreuz ist für ihn nicht der Weg des Messias. Zu sehr hängt er noch am Bild des starken Gottesmannes, der mit eiserner Faust dreinschlägt, die Römer rauswirft und in Israel aufräumt, indem er die Gerechtigkeit wiederherstellt. Petrus sieht diese Hoffnung als ein Nahziel. Der Weg nach Jerusalem muss für ihn automatisch zum letzten Zweikampf zwischen Gott und den Bösen führen, den Jesus für sich und so zum Wohl der Menschen entscheidet. Er hat keine Geduld. Aber genau die fordert Jesus als Zeichen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ein. Nur durch das Kreuz kann der Weg zum Ostermorgen führen. Ohne sich dem Leid zu stellen, kann das Leben in Fülle nicht Wirklichkeit werden. Das ist für den Kopf nachvollziehbar, aber dem Herzen fällt es schwer, das Leid als Größe akzeptieren zu müssen. Glaube ist nicht nur eine Sache des Kopfes, der die Inhalte systematisiert, sondern v.a. eine Herzenssache, weil dort die Brücke zwischen unserem Erleben und unserer Hoffnung geschlagen wird.
Ich kann in meinem Glauben lange sicher stehen, aber im nächsten Moment Gott als fern und verborgen erleben. Dann aber braucht es viel Geduld. Wir können Gott nicht durch Gebete und ein gutes Leben bestechen. Das Leid ist ein Problem, aber es ist in unserer Welt und in unserem Leben allgegenwärtig. Wir sind mit ihm konfrontiert im Blick auf das Weltgeschehen voller Ungerechtigkeit und Katastrophen, aber auch im persönlichen Umfeld und im eigenen Leben. Jeder von uns sieht in seinem engsten Familien- und Bekanntenkreis Leid, das Mensch heimgesucht hat und zu zerbrechen droht: Krankheiten, Krisen, Konflikte, v.a. in der Partnerschaft und in der Familie, Trennungen, wirtschaftliche Sorgen… Immer stellt sich die Frage nach dem Warum? Petrus würde gerne ein Nein zum Leid sprechen, aber das ist unrealistisch. Jesus will das Leid sicher auch nicht, aber er nimmt es bewusst an und gibt ihm so einen Sinn. Wir treffen Jesus später am Ölberg, dem Ort, an der er selbst existenziell mit der Frage nach dem Leid konfrontiert ist und mit Gott ringt: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Mt 26,39) Er kann Sinn finden, weil er weiß, dass sein Tod das Tor zur Auferstehung und zum Leben ist. Ohne diese Hoffnung wird Leid zur sinnlosen Qual. Petrus möchte das Leid vermeiden, aber das ist nicht möglich. Jesus will, dass wir im Leid eine Schule des Lebens sehen, die uns feinfühliger und hoffnungsvoller macht. Das Dunkle ist ein Teil des Lebens, den ich nicht ausblenden kann, aber das ich überwinden kann durch die helle Hoffnung auf die Fülle des Lebens. Die Geduld des Glaubens mit Gott ist die Liebe, die vertraut, dass Gott mir nichts Böses will, und die Hoffnung, die sicher ist, dass alles Finstere überwunden wird und wir zum Leben bestimmt sind. In einer Betrachtung zum heutigen Evangelium formuliert es Kardinal Christoph Schönborn treffend: “Wir müssen alles uns Mögliche tun, um Leid zu lindern. Ganz verhindern können wir es nicht. Wir können es aber mittragen. Das tut Gott selbst. Denn Jesus steht auf der Seite der Leidenden.“ (Hat Leiden einen Sinn? (erzdioezese-wien.at)
Ein gelungenes Modell geduldigen Glaubens kann ich im „Superstar der Heiligen“, im Heiligen Franziskus erkennen. Wir erinnern uns heute daran, dass er vor genau 800 Jahren um das Fest Kreuzerhöhung herum die Wundmale Jesu eingeprägt bekam. Er war zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank und von Schmerzen geplagt. Aber diese tiefe Erfahrung der Verbindung mit dem Gekreuzigten mündete für ihn in ein Lied der Hoffnung, den Sonnengesang, den er kurze Zeit später verfasste. Der kranke und gezeichnete Franziskus hebt an und lobt Gott mit allen Geschöpfen: „Laudato si, o mi Signore“ „Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen…“ Am Ende wird er sogar den letzten Schritt gehen und Gott preisen durch das Leid: „Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.“ Es ist ein Lob auf Gott, das einen langen Atem braucht. Amen (Sven Johannsen, Pfr.)
23. Sonntag B - Einführung
Predigt 23. Sonntag im Jahreskreis / Mariä Geburt
Einführung in der PG Würzburg Ost
Liebe Schwestern und Brüder
„Das fünfte Evangelium“, so hat schon vor vielen Jahrzehnten der Benediktinerpater und Archäologe Bargil Pixner treffend das Heilige Land beschrieben. Jeder, der einmal in Israel war, kann das nachvollziehen. Biblische Texte, aber auch kirchliche Feste bekommen eine ganz neue Verwurzelung, wenn zum Hören und Feiern die Erinnerung an die besuchten Stätten aufleuchten. Israelpilger können die Seligpreisungen nicht hören ohne sofort wieder an den wunderbaren Blick über die Hänge durch die Palmen- und Rosengärten, die liebevoll von italienischen Schwestern gepflegt werden, auf den silbern glitzernden See zu denken.
Es gibt Orte und Wege im Heiligen Land, die vergisst man nie. So verhält es sich auch mit dem heutigen Festtag Mariä Geburt. Er erinnert an den Weihetag einer Kirche in Jerusalem. Einer der klassischen Pilgerpfade führt von der Paternoster-Kirche auf dem Ölberg im Osten der Heiligen Stadt Jerusalem an den jüdischen Gräbern und der Kirche der Nationen vorbei hinab ins Tal Joschafat, dem Ort, der nach jüdischer Tradition einmal Schauplatz des jüngsten Gerichts sein wird, und steigt dann vom Mariengrab hinauf zum Löwentor in die Altstadt. Nur wenige Meter, nachdem man das Tor passiert hat, sieht man links den Zugang zum Tempelberg für Muslime und rechts eine lange Klostermauer, die seit über 150 Jahren französisches Staatsgebiet umfasst. Betritt man durch das kleine Tor das Areal im Inneren dann liegt vor dem Besucher nicht nur der Teich Betesda, der aus den Evangelien bekannt ist, vielmehr erhebt sich eine der schönsten, vielleicht die schönste Kirche des Heiligen Landes, die der Großmutter Jesu geweiht ist: die Annakirche. Sie ist das wohl am besten erhaltene Gotteshaus der Kreuzfahrerzeit, ein Glück, das auch dem Umstand zu verdanken ist, dass Saladin aus Achtung vor Maria und Anna die Kirche nicht zerstören ließ, sondern zur Moschee umwandelte, was sie dann auch gut 700 Jahre war. Nüchtern in der Dekoration ist es der elegante Raum mit seiner einzigartigen Akustik, der die Annakirche zu einem der schönsten und besinnlichsten Orten in der hektischen Jerusalemer Altstadt macht. Hier atmet jeder Stein Frieden. In der Kirche führt seitlich eine kleine Treppe in die Krypta, eigentlich ein Gewirr von Gängen und Grotten, die aus dem Felsen gehauen wurden. Dort lokalisiert die christliche Tradition seit langer Zeit den Ort der Geburt Mariens. Die Annakirche ist also nach Jerusalemer Tradition das Elternhaus der Gottesmutter. Ich weiß, dass das heutige Jerusalem nur wenig mit der Stadt zu tun hat, die Jesus am Palmsonntag betrat, aber ich finde den Gedanken faszinierend, dass er am Beginn der Heiligen Woche nicht nur in eine ihm als Galiläer fremde und feindlich gesinnte Hauptstadt kam, sondern nur wenige Schritte nach dem Einzug auf ein Haus getroffen sein muss, das ihn an seine Familie erinnerte. Wir finden in den vier Evangelien keinerlei Hinweise auf die Großeltern Jesu und die Geburt seiner Mutter. Es ist das sog. Protoevangelium des Jakobus, das uns von Anna und Joachim und ihrem Schicksal der langen Kinderlosigkeit erzählt. Wie schon im Fall der Erzeltern Abraham und Sara leiden beide unter dem nicht erfüllten Wunsch nach einem Kind, bis ein Engel ihnen ankündigt, dass sie Eltern eines besonderen Kindes werden. Die Annakirche soll gemäß einer Jahrhunderte alten Tradition der Ort der Geburt und der ersten Lebensjahre Mariens gewesen sein. Dann wäre Jesus noch vor der heutige via dolorosa beim Betreten der Heiligen Stadt also vor einem Haus gestanden, das ihn mit Menschen verbindet, die sein Leben prägte und an die er vielleicht gute Erinnerungen hatte. Wir wissen nicht, ob Jesus seine Großeltern überhaupt gekannt hat, aber erzählt wird man von ihnen haben. Vielleicht aber ging es ihm auch so wie manchem von uns: Bei den Großeltern war es immer am schönsten. Dort hat alles besser geschmeckt und man durfte viel mehr. Großeltern waren immer perfekt und in der Erinnerung die Menschen, die nicht so streng und ungerecht waren wie die Eltern. Sie erzählen von unserer Verwurzelung und unserer Herkunft. Sie stehen für das, was wir mit dem Begriff „Heimat“ bezeichnen. Heimat ist kein Ortsschild oder ein Haus aus Steinen, sondern ein Mosaik von Menschen, Erfahrungen und Erlebnissen, die uns bis ins hohe Alter prägen. Heimat ist kein Kampfmittel, das Populisten missbrauchen dürfen, um Menschen, die ihnen fremd erscheinen, auszugrenzen, sondern eine Prägung, die ein Mensch braucht, damit er in der Weite und Komplexität der Welt bestehen kann. Ich brauche Werte, Vorbilder, Beziehungen, Orte, an die ich mich zurückbinde, um neue Weg in meinem Leben zu betreten. Der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer hat in einem Gespräch mit der ZEIT die pointierte Beschreibung gefunden: „Heimat ist der Ort, an den die Seele gern zurückkehrt.“ (Die Zeit 29/2021)
Es geht um mehr als Häuser, Traditionen, Dialekte oder Vereine, es geht um die Wurzeln meiner Persönlichkeit, meines Selbst, wie ich geworden bin, wer ich bin. Daran erinnert uns die Kirche, die mit dem heutigen Festtag verbunden ist.
Im Laufe meines Studiums und meiner Tätigkeit als Pfarrer bin ich überschüttet worden mit Definitionsversuchen von dem, was Gemeinde ist. Historiker erklären, dass die Pfarrei nichts anderes war als eine Verwaltungseinheit. Das erinnert schon ein wenig an die genialen Umstrukturierungsversuche durch die diversen Diözesanleitungen in unserem Land. Pastoraltheologen reduzieren Gemeinden z.B. auf das Bild der „Berghütte“, gleichsam eine Art Tankstelle für die Seele, dich ich aber wieder hinter mir lasse. Ich hänge weiterhin an der Identifikation von „Gemeinde“ und „Heimat“. Gemeinde ist nicht in erster Linie das Pfarrbüro, in dem ich Dokumente und Bestätigungen bekomme, und sie ist nicht nur eine kurze Rast, damit das Herz zur Ruhe kommt in einer vorläufigen Erfahrung der Stille, sondern ein Ort und eine Gemeinschaft, die mich prägen will. Sie ist im besten Fall „der Ort, an den die Seele gern zurückkehrt.“ Das heißt für mich sie verbindet sich für den, der in ihr lebt und der sich auf sie einlässt, mit Erfahrungen und Begegnungen, die mich ein ganzes Leben lang prägen können, auch wenn ich mich weiterentwickle oder gar nicht mehr in meiner Heimatgemeinde lebe. Ich möchte diesen Gedanken von der Gemeinde als Heimat in drei Impulsen vertiefen, die sich mit dem heutigen Fest und den biblischen Lesungen verbinden.
- Gemeinde ist das Haus, in dem alle einen Platz haben.
In meiner Jugend und später auch noch in den ersten Jahren als Pfarrer war ein Lied von Peter Janssen sehr beliebt, dessen ständiges Spielen in Familien- und Jugendgottesdiensten wahrscheinlich viele meiner Generation so geschädigt hat, dass sie den Text noch immer auswendig mitsingen können. Im Kehrvers heißt es da: „Komm, bau ein Haus, das uns beschütz. Pflanz einen Baum, der Schatten wirft, und beschreibe den Himmel, der uns blüht“ Danach lädt der Komponist viele ein, in diesem Haus Gottes zu wohnen vom Kind bis zum alten Menschen. Es mag kitschig klingen, aber ich halte noch immer daran fest, dass so Gemeinde ist: Ein Haus, in dem alle Platz haben, ein Ort der Begegnung der Generationen, der Erfahrung von Unbeschwertheit und Gemeinschaft, die dem Leben Tiefe, aber auch Fröhlichkeit gibt. Wir verwalten nicht den Untergang, wir bauen an einem lebendigen Haus, in dem jeder seinen Platz finden darf. Ich wünsche mir, dass Eltern, Familien und Kinder Erfahrungen machen, die ihnen in allen Umbrüchen des Lebens das Gefühl geben, dass sie ernst- und angenommen werden. Taufeltern sind keine Kunden, Kommunionfamilien keine Störfaktoren und Jugendliche keine lustlosen Ausnutzer unserer Angebote. Die Senioren sind nicht die Alten, um die man sich nicht kümmern muss, weil sie ja eh kommen. Ich bin überzeugt, dass in einer lebendigen Gemeinde jede Lebensstufe etwas finden kann, dass sie beheimatet. Ganz bewusst stelle ich mich hinter unsere Kindertagesstätten, weil sie Orte der Gemeinde sind, an denen wir in Begegnung mit Menschen kommen, die mitunter gerade Familie geworden sind und froh sind, dass sie hier eine Atmosphäre haben, in der ihre Kinder wertvolle Persönlichkeiten werden können. In der Gemeinschaft der Generationen können Jugendliche Werte für sich finden, die ihrem Leben Orientierung und Richtung geben aus dem Geist Jesu. Menschen in der Lebensmitte dürfen hier erfahren, dass sie nicht nur das sind, was sie leisten und schaffen. Und Senioren haben ihren Platz, ohne sie rechtfertigen zu müssen, dass sie da sind. Eine Gemeinde lebt davon, dass jeder sein darf.
- In einer Gemeinde werden alle gesehen, v.a. auch die, die sonst übersehen werden
Im heutigen Evangelium hören wir wieder von einem beeindruckenden Heilungswunder Jesu. Was schnell übersehen wird, scheint mir aber sehr wichtig: Freunde bringen den Gehörlosen zu Jesus. Sie sehen seine Not und teilen sein Leid. Sie werden nicht einfach mitleidig und bedauern den armen Menschen, sondern entwickeln für ihn eine Perspektive. Sie bitten Jesus für ihn. Mit ihrer Aktion wird ein Mensch in den Mittelpunkt gerückt und zum Zentrum des Interesses, der in der Regel eine Randstellung einnimmt. Der Gehörlose wird geheilt, aber seine Heilung bewirkt auch Heilendes für die anderen. Sie reden in neuer Weise: „Er hat alles gut gemacht“. Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen, die oft im Leben einer Leistungsgesellschaft untergehen, durchwirken das Miteinander unter denen, die an Jesus glauben. Für den anderen Menschen beten und ihn vor Gott tragen, das ist Liturgie. Wir zelebrieren nicht einen Ritus, sondern feiern die Begegnung mit dem Gott des Lebens, in die wir auch die Menschen mithineinnehmen wollen, die uns am Herzen liegen. Achtsamkeit für die Menschen in Not, aber auch Offenheit, uns selbst verwandeln zu lassen, dass wir staunen und reden können von dem, was uns Hoffnung macht. Im Blick auf den Propheten Jesaja scheint mir das eine große Aufgabe für eine christliche Gemeinde: Künder der Hoffnung sein in einer Welt, in der viele Unheilspropheten mit markigen Sprüchen sich in Szene setzen. Wir reden nicht schön, aber wir reden von der Perspektive der Hoffnung auf eine Zukunft, die noch nicht verloren ist. Wir sind nicht die drei Affen, die nicht sehen, nicht hören und nicht reden. Wir sehen die Wirklichkeit der Welt, wir hören auf das Seufzen derer, die in Not sind, und wir haben den Mut von Gott zu sprechen, der Leben will für alle.
- Eine Gemeinde gibt mir die Sicherheit, dass es gut ist, dass ich da bin,
Kehren wir noch einmal zum heutigen Fest zurück. Der Hamburger Pfarrer Felix Evers deutet es mit einem Lied, das Taufeltern und Erzieherinnen im Kindergarten gut kennen und in dem es heißt: „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur. Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu. Du bist du!“ Welchen Wert hat das Leben? Der beunruhigende Gedanke, dass ich mich für mein Dasein rechtfertigen muss durch Leistung, lastet auf immer mehr Menschen. Die Welt ist komplex geworden und viele drohen den Halt und die Orientierung zu verlieren. Sich an anderen zu messen und doch immer wieder zu erleben, dass ich nicht perfekt bin oder gar nicht den großen Erwartungen entsprechen kann, die an mich gestellt werden, stürzt Menschen in Niedergeschlagenheit und Erschöpfung. Gemeinde ist ein Gegen-Ort. Hier bin ich nicht zuerst derjenige, der dies oder das kann, den man für jene Aufgabe einsetzen kann, sondern hier bin ich Person. Person führen wir zurück auf den lateinischen Begriff „personare“, „durchtönen“. Ich bin also der Resonanzraum Gottes, durch den sein Wort tönen kann, gleichsam eine Botschaft Gottes an alle Menschen. Diese Botschaft kennen wir vom Jordanstrand her, in dem Moment, in dem sich bei der Taufe Jesu der Himmel öffnete und die Stimme Gottes sprach: „Du bist mein geliebtes Kind, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Einen Ort zu gestalten, der nicht geprägt ist von Überheblichkeit, aber vom Selbstbewusstsein, dass ich als Kind Gottes einen festen Platz in dieser Welt und eine Heimat im Himmel habe, heißt für mich, an einer lebendigen Gemeinde zu bauen.
Liebe Schwestern und Brüder
„Ein feste Burg ist unser Gott, ein starke Wehr und Waffen“, singen unsere evangelischen Mitchristen. Als Albert Boßlet diese Kirche und das Areal Mitte der dreißiger Jahren plante, scheint er wohl diesen Gedanken im Hinterkopf gehabt zu haben. In einem Umfeld, in dem die christliche Botschaft angegriffen wurde und Fremdenhass zur Staatsideologie wurden, hat er ein Bollwerk des Glaubens geschaffen. Heute noch merkt man diese Intention, wenn man den Pfarrhof betritt. Es wirkt auf manchen Besucher wie ein Burganlage.
Mit Blick auf diese Positionierung in der Burg Gottes haben wir letztlich zwei Möglichkeiten.
Wir können uns in unseren Gemeinden abriegeln vor der Welt und versuchen, eine Art Parallelwirklichkeit aufzubauen. Dann werden wir alle Entwicklungen nicht nur kritisch beobachten, sondern auch als schlecht verurteilen. Das ist für mich der Weg zur Sekte. Denn wir können unsere Gläubigen nicht einsperren in der Hoffnung, dass uns keiner verloren geht. Oder aber wir öffnen die Tore unserer Gemeinden, der Burg Gottes, um Menschen in ihrer Suche nach Gott, in ihrer Bedrängnis und ihrer Sehnsucht nach einem Obdach für die Seele Heimat zu bieten. Dann wird vielleicht nicht immer alles perfekt sein. Dann werden wir akzeptieren müssen, dass Menschen unterschiedliche Einstellungen zur Art haben, wie ihr Leben gelingt, die nicht immer den kirchlichen Gesetzen und Moralvorstellungen entsprechen, aber dann erfüllen wir den Auftrag Jesu an den Gehörlosen und an uns: „Effata! Tue dich auch!“ Und nur dann haben wir auch die Möglichkeit einmal festzustellen, dass alles gut geworden ist. Wir wollen nicht in Angst und Furcht diese Welt überstehen, sondern uns öffnen und zur Heimat werden für Menschen, die mit uns auf das Wort Gottes hören und zu leben versuchen.“ Amen
Sven Johannsen, Pfarrer