70 Jahre Kirchweihe St. Alfons "Damit die Erde am Himmel hafte"
Predigt 70 Jahre Kirchweihe St. Alfons (7.11.1954)
Liebe Schwestern und Brüder
Der Baumkronenschnitt muss die Silhouette der Kirche St. Alfons auf der Keesburg als herausragendes Baudenkmal der Stadt Würzburg gewährleisten, so habe ich es in der vergangenen Woche bei einer Besprechung über die Zukunft unserer Gebäude erfahren. Es war keine Veranstaltung des Obst- und Gartenbauvereins, der sich Sorgen um den Baumbestand im Klostergarten macht, sondern ein Treffen, in dem Fragen angesprochen wurden, was und wie hoch, deshalb als das Maß der Baumkrone, kann auf dem Areal um die Kirche gebaut werden. Deutlich ist, dass die Stadt Würzburg und auch die Denkmal-Behörden die Sicht auf die Kirche St. Alfons gesichert wissen möchten. Natürlich spielen wir nicht in der gleichen kulturellen Liga wie die Festung, aber wie das Würzburger Wahrzeichen gilt auch unsere Kirche als prägend für das Stadtbild. Von weither und v.a. aus den Niederungen des Maintals sieht man den markanten Campanile und den ungewöhnlichen Kirchenbau. Nach 70 Jahren ist St. Alfons nicht aus dem Stadtbild wegzudenken. Nur wenige von Ihnen haben noch ganz andere Diskussionen erlebt: „Sprungschanze“, „Abschussrampe“, „Flugzeughalle“, „Ausgeburt eines architektonischen Brutalismus“ und viele andere Polemiken mussten Dombaumeister Hans Schädel und die Verantwortlichen im Bistum sich anhören, denn für viele Würzburger war schon der Anblick des freistehenden Glockenturms und des eher nüchternen Außenbaus befremdlich, besonders aber das „Mars-Menschen-Gemälde“ im Inneren, wie unser Altarbild diffamiert wurde, sorgte lange für erregte und erhitzte Diskussionen. Wahrscheinlich erinnern sich einige noch an die Debatten, vielleicht sogar in der eigenen Familie, gerade auch in der Spannung mit der älteren Generation, die ein anderes Bild von Kirchenbau hatten.
Heute können wir den funktional wirkenden Bau und das monumentale Altarbild von Georg Meistermann gut in Einklang bringen und ihre innere Verwobenheit erkennen. Wie ein großer Fingerzeig ragen Kirche und Turm zum Himmel und das Kreuz auf dem Dach, das nur den Umriss des Gekreuzigten zeigt, verweist uns auf die österliche Botschaft: „Er ist nicht im Grab oder am Kreuz, sondern als der österliche Herr mitten unter euch.“ Der noch zurückhaltende österliche Hinweis der Außenfassade öffnet sich mit Wucht dem, der die Kirche betritt und das imposante Gemälde von Georg Meistermann betrachtet: Wir sind Teil der himmlischen Liturgie, versammelt mit den Chören der Engel und den Scharen der Heiligen um den Thron Gottes. Das Äußere der Kirche lädt die Menschen, die noch gute Erinnerungen an den Schrecken des Krieges und der Zerstörung der Stadt hatten, österliche Wirklichkeit in ihrem Stadtteil zu erkennen, und das Innere ermutigt, die Herzen zu erheben und selbst Teil der himmlischen Chöre zu werden.
Es hätte auch der besondere Baustil und die Lage von St. Alfons sein können, die den Dichter Reiner Kunze beim Anblick des Stadtbildes von Lübeck poetisch sagen ließ: „Damit die Erde hafte am Himmel, schlugen die Menschen Kirchtürme in ihn“ (Reiner Kunze, Die Silhouette von Lübeck, im Gedichtband: auf eigene hoffnung, Frankfurt 1981, S. 44.) Unser Kirchturm ist tief in der Erde verwurzelt und zugleich kann man den Eindruck teilen, dass er seinen wahren Haftpunkt nicht auf der Erde, sondern im Himmel hat und so die Erde an den Himmel bindet. Es ist ein eindrucksvolles und sprechendes Bild, das Reiner Kunze uns anbietet: Unser Kirchturm ist wie ein Nagel in den Himmel geschlagen, damit die Erde an ihm haften bleibt. Durch die Kirche macht die Erde sich fest am Himmel, damit sie nicht ins Haltlose stürzt. Bischof Felix Genn von Münster deutete das Gedicht Kunzes auf die geistliche Dimension des Menschen hin: Es ist die tiefe Sehnsucht, dass Erde mehr braucht als das Einerlei. Sie braucht die Dimension des Himmels, die Möglichkeit sich auszustrecken in ein Unendliches. Deshalb schlugen Menschen Kirchtürme in ihn hinein, damit die Erde durch dieses Zeichen hafte am Himmel. Es gibt diese Sehnsucht und sie wird stärker, je mehr Menschen erleben, was die Erde ihnen alles bieten, was sie ihnen aber auch nicht bieten kann.“ (Predigt zur Domkirchweih Essen 2005)
Das erleben wir in Kirchen Tag für Tag: Ungezählte Menschen kommen, zünden eine Kerze an, verweilen und beten, weil sie hier den Haftpunkt zwischen Himmel und Erde ahnen. Nicht nur weil wir ein Haus für den Gottesdienst brauchen, ein Museum, in der wir die Kunstschätze unserer Pfarrei präsentieren können, sondern um Menschen einen Ort für ihre Sehnsucht nach dem Himmel und nach der Unendlichkeit zu geben, wo sie die Menschen aufgehoben wissen, die sie durch den Tod verloren haben, wo sie den ewigen Gott erahnen, der die beschützen kann, die ihnen im Leben lieb sind und der Antworten auf die großen Fragen des Leben geben kann.
Damit die Erde hafte am Himmel schlugen Menschen Kirchtürme hinein - von dieser Bodenhaftung des Himmels oder besser noch der Himmelshaftung der Erde im Hause Gottes spricht schon das Alte Testament.
Wir haben als Lesung das Weihegebet des Salomo gehört. Seitdem das Volk Israel im gelobten Land ankam, hatte es das große Bedürfnis, Gott ein Haus zu bauen, aber es wurde ihm verweigert. Selbst König David, der Liebling Gottes, durfte keinen Tempel bauen. Gott ließ sich nicht einsperren wie die Götzen der anderen Völker. Er durchwaltet Zeit und Raum ohne Grenzen. Erst seinem Sohn Salomo gestattete Gott die Errichtung eines festen Baus mit klaren Vorgaben. Niemals sollte das Volk Israel glauben, sie hätten Mauern gebaut, zwischen die sich Gott sperren ließe. So drückt Salomo in seinem Gebet auch das ehrfürchtige Staunen aus, dass der unfassbare Gott in einem Haus wohnen soll, das Menschen gebaut haben. Salomo macht klar: Der Tempel des Volkes Israel ist nicht Gottes Wohnung, sondern der Ort an dem sein Name wohnt, wo er also ansprechbar wird für die Menschen, wo sie ihn anrufen und ihm begegnen können: Eine Stätte, an der Gott den Menschen hört und ihm verzeiht. Es darf kein kultisches Gefängnis werden, in das man Gott einsperrt, damit der Glaube aus dem Alltag herausgenommen bzw. verbannt wird in einem sakralen Raum außerhalb des wirklichen Lebens, sondern ein Heiligtum, in der das Leben der Menschen eingetaucht wird in die Schekina, in die Herrlichkeit Gottes, eben ein Ort, wo die Erde am Himmel haftet.
Aus diesem Grund vermisst Israel seinen Tempel, aus diesem Grund können fromme Juden nur schwer damit umgehen, dass über dem Tempelberg andere Religionen ihre Gotteshäuser errichtet haben. V.a. aber halten Juden bis heute den letzten Rest des Tempels, die Klagemauer, oder Westmauer heilig, weil sie hier den Ort betreten, an dem die Gegenwart Gottes in verdichteter Weise zu erfahren ist.
Und genau diese Sicht des Tempels treibt Jesus an, im Evangelium gegen all die vorzugehen, die den Tempel seine Heiligkeit nehmen wollen. Die Händler haben nichts Böses getan, sie sitzen auch nicht im eigentlichen heiligen Tempelbezirk, sondern im äußeren Vorhof, wo seit langer Zeit die Opfertiere verkauft werden für den Kult im Tempel. Jesus erzürnt, dass das Zentrum sich verrückt hat. Um den Tempel hat sich ein solcher Marktbetrieb aufgebaut, dass die eigentliche Sehnsucht nach der Begegnung mit Gott in den zentralen Höfen und Einrichtungen des Tempels fast nebensächlich wurde. Jesus will den Tempel nicht zerstören, er will ihm seinen Wert wiedergeben: Der Mensch mit seinem irdischen Sorgen und Freuden tritt ein in Herrlichkeit des unfassbaren Gottes - Staunen, Ehrfurcht, aber auch Vertrauen und Geborgenheit sollen ihn ergreifen.
Am Fest der Kirchweihe wird uns gesagt: Der Wert unsere Kirche geht weit hinaus über den äußerlichen Bau. Es ist der Punkt, an dem unsere Lebensräume am Himmel haften. Genau das haben wohl auch unsere Vorfahren so empfunden. Unser Kirchturm erhebt sich 38 Meter in die Höhe. Er wurde errichtet in den Jahren nach dem II. Weltkrieg verbunden mit dem Erleben, dass alles dem Erdboden gleich war und unserer Stadt nach dem Fliegerangriff am 16. März 1945 am tiefsten Punkt ihrer Geschichte angelangt war. Auch fast zehn Jahre später liegen noch Trümmer an den Straßenrändern und die Folgen des Krieges sind noch lange nicht beseitigt. Familien warten auf Väter, Söhne, Brüder, die noch in russischer Gefangenschaft festsitzen und vielleicht erst als Spätheimkehrer zurückkommen können oder eben gar nicht mehr. Genau in dem Moment, in dem wohl die Sorgen der Erde, die Sorge um das tägliche Brot die Menschen der Stadt in besonderer Weise beschäftigten, hefteten sie ihre Erde noch stärker an den Himmel und bauten diese Kirche und ihren Campanile, als wollten sie sagen: Jetzt, wo wir am Boden liegen, lassen wir den Himmel erst recht nicht los. In den großen und kleinen Nöten unseres Stadtteils war es diese Kirche, in der die Menschen seit 70 Jahren trauerten, flehten, hofften und neue Kraft empfingen, weil sie ahnten, dass Gott ihnen nahe bleibt.
Die Kirche muss im Dorf oder besser im Stadtteil bleiben, und sie muss Kirche bleiben, damit unsere Erde Himmel atmet und die Menschen nicht haltlos werden. Zugleich heißt das aber auch: Unsere Kirche ist nicht ohne Menschen denkbar, die sie füllen, die in ihr beten, die in ihr die Eucharistie feiern und sagen: Ohne die Feier des Sonntags kann ich nicht leben. Ob unsere Kirche ihren Wert verliert und renovierungsbedürftig wird, hängt nicht nur daran, ob baulicher Verfall sich breit macht, sondern noch mehr ob wir, die Gläubigen, in ihr Gott nahe kommen oder nicht. An diesem Punkt kommen Ängste auf: Kirchen werden dort nutzlos, wo die Menschen dieser Erde im Leben und im Alltag den Bezug zu Gott verloren haben. Ohne Kirchen kommt den Menschen die Begegnung mit dem persönlichen Gott abhanden. Die Krise der Kirche ist auch eine Krise des Glaubens. Mancher mag meinetwegen irgendein höheres Wesen beim Waldspaziergang erahnen, aber das hat noch lange nichts mit unserem Gott zu tun. Kirche lebt nicht nur am Sonntag, sie ist das Haus, das Gott zu eigen genommen hat, und das für den Menschen offenbleibt, auf dass wir verstehen und wissen: „Damit die Erde hafte am Himmel, schlugen Menschen Kirchtürme in ihn ein“ Sven Johannsen, Pfr.
32. Sonntag B "An Gott mich klammern"
Predigt 32. Sonntag B – „An Gott mich klammern“ (Augustinus)
Liebe Schwestern und Brüder
Evangelikale Christen feiern den neu gewählten US-Präsidenten als den Retter, den Gott ihrem Land geschickt hat. Der russische Präsident versteht sich selbst als von Gott gesandt, um die Größe Russlands wiederherzustellen. Ist das Religion oder kann das weg?
Fanatische Anhänger verschiedener Weltreligionen sehen es als Auftrag Gottes, Andersgläubige zu bekehren oder gar zu eliminieren. Ist das Religion oder kann das weg?
Alte Männer in feierlichen Gewändern prozessieren über den Petersplatz in Rom und verstehen ihre Besonderheit als von Gott gewollt. Frauen, so ihre Botschaft, gehören nicht in diesen elitären Club, weil Gott das nicht will. Ist das Religion oder kann das weg?
Täglich werden wir mit Bildern und Nachrichten konfrontiert, in denen Menschen Gott in Anspruch nehmen für Ihre Zwecke und behaupten, dass ihr Handeln und viele Äußerlichkeiten dem Willen Gottes entsprechen und wesentliche Bestandteilevon Religion sind. Oft hat man den Eindruck, dass sie Gott gar nicht brauchen, sondern nur für ihre Zwecke als Legitimation gebrauchen. Das entspricht dem Vorwurf, den Jesus heute gegen die Schriftgelehrten erhebt. Religion kann schnell missbraucht werden für das Aufpolieren des eigenen Images, für die Durchsetzung von Machtansprüchen und Einfluss, für Abgrenzung und Ausgrenzung, sogar für Hass und Gewalt gegen Menschen, die anders denken und anders sind. Die Versuchung, Religion für die eigenen Zwecke auszunutzen und so Gott zum Götzen zu degradieren, ist m.E. als Gefahr in jeder Religion zu finden.
Was aber ist Religion? Ich glaube, dass das heutige Evangelium darauf eine Antwort zu gibt.
Wir bewundern schnell die Opferbereitschaft der Witwe, die in den Tempel geht und nicht nur etwas vom Überfluss, sondern ihren ganzen Lebensunterhalt gibt. Man kann das Wort Jesu wiedergeben mit dem Schluss: „Sie gibt ihr ganzes Leben.“ Das ist sicher vorbildhafte Barmherzigkeit und ein Beispiel für eine Opferbereitschaft, die wirklich vom Menschen etwas abverlangt. Während die meisten Besucher des Tempels ein kleines Scherflein in den Opferstock werden, dessen Verlust sie nicht wirklich schmerzt, gibt die Frau für Gott und die Menschen die letzte Sicherheit für diesen Tag oder sogar für eine längere Zeit.
Ist das Religion? Das Handeln der Frau ist bewundernswert, aber noch nicht per se eine religiöse Tat. Sie kann auch aus Furcht vor Strafe geschehen. Dann entspringt ihre Haltung nicht einer gesunden Gottesbeziehung sondern ist der Angst vor einem bösartigen Dämon geschuldet. Oder aber sie erwächst aus der falsch verstandenen Hoffnung, dass Gott ihr für die zwei Münzen die doppelte Summe zukommen lassen wird. Dann ist das nicht nur Berechnung, sondern Dummheit, in jedem Fall aber keine Religion. Wir erfahren wenig über die Beweggründe der Frau im Evangelium. Die Liturgie gibt ihr aber ein Gesicht und eine Geschichte in der Witwe von Sarepta, die uns in der ersten Lesung vorgestellt wird.
Elija ist auf der Flucht. König Ahab und seine Frau Isebel sind vom Glauben abgefallen und verfolgen den letzten Kämpfer für den Gott Israels. In Israel ist er nicht mehr sicher und Gott schickt ihn nach Sarepta, eine kleine Stadt am Mittelmeer oberhalb der Nordgrenze von Israel. Drei Jahre lang herrscht ein schreckliche Dürrekatastrophe, weil Elija im Auftrag Gottes den Himmel verschlossen hat, so dass kein Regen und kein Tau mehr fallen.
Die Witwe bleibt namenlos, so kann sie gut zur Identifikationsgestalt für die Frau im Evangelium werden. Sie ist ein Mensch unter vielen und wie viele andere auch muss sie sich mit ihrem Sohn durch ein mühsames Leben schlagen. Mit Elija verbindet sie die Perspektivlosigkeit. Der erschöpfte Elija und die hungernde Frau stehen am Ende ihres Lebens. Sie hat nichts mehr zu Hause außer einer Handvoll Mehl und einigen Tropfen Öl, das gerade noch reicht für ein letztes spärliches Mahl. Wir können gut nachvollziehen, dass sie dem Wunsch des Elija nach einer Mahlzeit nicht entsprechen kann. Dann aber geschieht das Erstaunliche: Sie vertraut auf sein Wort „Fürchte dich nicht!“. Die Frau weiß nichts von den Streitigkeiten zwischen dem Propheten und dem Königshaus. Sie kämpft ums Überlegen und hat letztlich schon abgeschlossen mit dem Leben und der Welt. Jetzt steht sie vor der Entscheidung: Das letzte Mahl für sich und ihren Sohn bereiten oder den letzten Bissen mit einem Fremden teilen? Elija verspricht, dass Gott ihr helfen wird, aber sie ist keine gläubige Israelitin. Sidon hat eigene Götter, die ihr aber nicht zur Seite stehen. Die Witwe vertraut unerwartet auf den Gott Israels und tut, was Elija ihr sagt. Ihr Gottvertrauen wird nicht enttäuscht werden. Happyend?
Nicht ganz. Die Geschichte geht weiter. Der Glaube der Frau wird ein zweites Mal auf die Probe gestellt. Ihr Sohn erkrankt und liegt im Sterben. Jetzt wehrt sie sich gegen Elija und seinen Gott. Auch Elija begreift nicht, wie Gott diesen Schicksalsschlag zulassen kann. Er klagt Gott an. Doch jetzt bewährt sich sein Glaube. Er betet für die Frau und ihren Sohn und Gott schenkt ihm das Leben. Am Ende wird die Frau feststellen: „Jetzt weiß ich, dass du ein Mann Gottes bist und dass das Wort des Herrn wirklich in deinem Mund ist.“
Der heilige Augustinus hat Religion in der Folge des Theologen Laktanz mit dem lateinischen Wort „religare“ „zurück- oder festbinden an Gott“ gedeutet. Die Erklärung ist heute bei Sprachwissenschaftler umstritten, aber sie drückt aus, um was es in der Religion geht: Ein festes Binden an Gott in der Sicherheit, dass er mich nicht fallen lässt. Augustinus bringt seine religiöse Erfahrung in das Wort: „An Gott mich klammern, das ist meine Kraft.“ Das ist keine Haltung untätigen Fatalismus, sondern das Fundament, auf dem gelebtes Gottvertrauen im Alltag möglich ist. Er formuliert klug weiter: „Bete, als hinge alles von Gott ab. Handle, als hinge alles von dir ab.“
Ich denke, dass genau diese Haltung im Opfer der Frau zum Ausdruck kommt. Sie gibt für Außenstehende nur ein kleines Opfer, für sie selbst aber ist es ihr ganzes Leben, alles, was sie geben kann, um die Not der Menschen zu lindern. „Handle, als hinge alles von dir ab.“ Sie kann das tun, weil sie im Gebet erfahren hat, dass alles von Gott abhängt. Sie riskiert nichts, weil sie sich des Beistands Gottes sicher ist, und so muss sie nicht lange überlegen oder sich zu dieser Tat zwingen. Ihre ist für sie selbstverständlich. Dahinter offenbart sich eine Frau, die die Erfahrung gemacht hat, dass sie sich auf Gott verlassen kann wie die Witwe von Sarepta. Sicher musste die Witwe auch durch viele Bedrängnisse und Zweifel. Ihr Leben ist schwer und das Ringen mit Gott, warum ihr Leben nicht glücklicher verlaufen ist, wird auch seinen Platz in ihrer Geschichte gehabt haben. Stärker aber muss die Erfahrung sein, dass sie in der Not von Gott gehalten ist und auf seine Hilfe bauen kann. Sie zeigt ihre Dankbarkeit in den beiden Münzen, die für Jesus am vergangenen Sonntag den Kern von Religion ausmachen: Die Münze der Gottesliebe und des Gottesvertrauen und die Münze der Nächstenliebe und Barmherzigkeit.
Was ist Religion?
Sie ist mehr als eine Sehnsucht, in der der Mensch sich ausstreckt nach einer Hoffnung, die er sich selbst nicht geben kann. Das wäre eine Illusion.
Sie ist mehr als eine Ansammlung von Ritualen, Traditionen und heiligen Ämtern. Das wäre nostalgische Brauchtumspflege.
Sie ist mehr als Lehren, rechtliche Anweisungen und Gebote bzw. Verbote. Das wäre eine Ideologie.
V.a. aber ist sie niemals die Legitimation für Fanatismus und Machtmissbrauch oder gar für den Anspruch von Politikern, sich als von Gott legitimiert zu sehen. Das wäre reiner Götzendienst.
Religion ist eine innere Sicherheit, die mich Gott und seinem Handeln vertrauen lässt, und so ist sie Ausdruck einer innigen Gottesbeziehung, eines Vertrauens, das uns befähigt, unser echtes, alltägliches Leben von Gott in Anspruch nehmen zu lassen. Diese religiöse Haltung kann ich nicht erzwingen oder als Leistung erbringen, sie wächst mit der Reifung des Lebens und bringt ihr Gaben in den beiden Münzen der Gottes- und der Nächstenliebe. Religiös ist der Mensch, der wie Augustinus sagen kann: „An Gott mich klammern, ist meine Kraft.“ Amen
Sven Johannsen, Pfr.
31. Sonntag B "Liebe braucht Begegnung"
Predigt 31. Sonntag B „Liebe braucht Begegnung“
Liebe Schwestern und Brüder
Wo haben Sie Ihre Ehefrau / Partnerin / ihren Ehemann / Partner kennengelernt? Auf der Arbeit? Beim Sport? Schon im Kindergarten oder in der Schule? Viele ältere Paare erzählen mir bei Jubelhochzeiten, dass sie sich bei Maiandachten zum ersten Mal gesehen und später auf der Kirchweih im Nachbarort getroffen haben: Das war wohl mal eine sehr beliebte Partnerbörse. Später waren es vielleicht Diskotheken oder sogar in der kirchlichen Jugendarbeit hier in der Pfarrei? Immer stand am Anfang eine Begegnung, bei der keiner der beiden ahnen konnte, dass Jahrzehnte gemeinsamen Lebens, Kinder, Enkel oder sogar schon Urenkel folgen werden. Ohne Begegnung geht Liebe nicht. Oder doch?
Mittlerweile lernen sich die meisten Paare im Internet kennen. Corona hat den Plattformen, auf denen Menschen miteinander erste Kontakte knüpfen in der Hoffnung, dass sich daraus eine feste Partnerschaft entwickelt, einen gewaltigen Aufschwung verschafft. Mittlerweile lernen sich rund ein Viertel aller Paare im Internet kennen. Erst dann folgen die Arbeit und der Freundeskreis als erste Orte der Liebe. Die Internetplattform Tinder erwirtschaftete im Jahr 2022 rund 1,65 Milliarden US-Dollar mit der Partnersuche im Internet.
In vielen Traugesprächen bekomme ich diesen gesellschaftlichen Trend bestätigt. Oft hat man schon Enttäuschungen in anderen Partnerschaften hinter sich, bis man den Schritt wagt, auf einer Dating-Plattform nach dem richtigen Partner / der richtigen Partnerin zu suchen. Es klingt ein wenig paradox. Zum einen schützt die online Kontaktaufnahme vor Verletzungen. Ich kann schnell und ohne Spuren zu hinterlassen mich zurückziehen. Zum anderen ist die treibende Kraft hinter der Anmeldung auf einer solchen Plattform die Suche nach Nähe, Intimität und einer vertrauensvollen Beziehung, in der ich mich ganz öffnen kann. Die Sozialpsychologin Johanna Degen erklärt diesen Trend so: „Menschen wollen sich online näherkommen, gleichzeitig aber versuchen sie, zu viel frühe Nähe zu vermeiden. Denn wer sich berührt, kann sich in der Seele wehtun – und wenn sich wie im Netz potenziell alle sofort berühren können, können Schmerz oder Enttäuschung zu groß werden.“ (vgl. ZEIT Wissen 04/2022 „Die heißeste Verbindung zwischen zwei Menschen“). Aber bei aller Vorsicht kommt der Mensch auf der Suche nach Liebe nicht an der körperlichen Begegnung vorbei. Der Philosoph Charles Pépin beschreibt die Begegnung als einen Widerstand, auf den wir treffen. In dem Wort Begegnung stecke das Wörtchen "gegen" drin. „Wir stoßen also auf jemanden. Auf einen Menschen, zu dem wir uns hingezogen fühlen, in dessen Umlaufbahn wir gerne eindringen würden – mit dem Wissen um das Risiko, dass wir ineinander stürzen und uns auslöschen könnten.“ Nur so kann Liebe entstehen. Alles andere ist ein Zweckbündnis oder eine Abhängigkeit. Zwei Menschen mit einer oft unterschiedlichen Lebensgeschichte und familiären Hintergründe treffen aufeinander und spüren, dass sie einander nicht im Weg stehen und behindern, also gegen den anderen wirken, sondern dass sie einander anziehen und brauchen. Ohne Begegnung keine Liebe, die die Kraft hat, das Gegensätzliche zweier Menschen zu überwinden. Die Liebe muss eine Macht sein, die stärker ist als der Wunsch, sich ganz und gar ohne Rücksicht auf andere auszuleben. Der jüdische Philosoph Martin Buber hat es schon vor hundert Jahren treffend beschrieben in der Beobachtung, dass „der Mensch erst am Du zum Ich wird“ und in seiner Schlussfolgerung „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“.
Gilt das auch für die Aufforderung „Gott zu lieben“? Wir betreten heute gleichsam die Herzkammer des jüdischen Glaubens, in dessen Mittelpunkt das Bekenntnis „Höre, Israel“ steht, dessen Worte sich heute am Ende der Lesung finden: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.“ Das Hauptgebot Israels ist die alleinige Verehrung Gottes, denn nur er liebt sein Volk Israel. So wie Gott Israel liebt und weil Gott Israel liebt, sollen die Israeliten und Israelitinnen Gottes Gebote, seine Weisung für ein gelingendes Leben, halten. Die letzte Zeile macht deutlich, dass der Ort für diese Liebe das Herz ist, nicht der Kopf. Es geht nicht darum, Regeln oder Lehrsätzen auswendig zu lernen, sondern sich von der Kraft anziehen zu lassen, die Gott auf den Menschen ausübt. Die Konsequenz aus der Liebe zu Gott aber ist für das Alte Testament die Liebe zum Nächsten. Jesus fasst diesen Zusammenhang im Evangelium zusammen, wenn er heute von einem aufrichtig nach Gott suchenden Menschen nach dem wichtigsten Gebot gefragt wird. Die Liebe zu Gott lässt sich nicht trennen von der Liebe zum Menschen und auch zu sich selbst. Es geht nicht um die Erfüllung einer Vorschrift, sondern um das, was dem Menschen am Herzen liegt und somit unendlich wichtig ist: Leben aus der gelingenden Liebe.
Das ist keine abstrakte Philosophie oder Einbildung. Israel kann Gott lieben, weil sie sich nahegekommen sind. Gott erinnert sein Volk immer wieder an die Begegnungen mit ihm, v.a. an die Urerfahrung des Glaubens, die Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten, seine Rettung am Schilffmeer und den gemeinsamen Weg durch die Wüste. Vielleicht war es nicht Liebe auf den ersten Blick, die Israel mit seinem Gott verbindet, zu verlockend wirken die mächtigen Götzen der anderen Völker, zu oft erinnert man sich an die Fleischtöpfe in Ägypten und fällt wieder von ihm ab, aber die Begegnungen mit Gott, die Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel und Lea mit ihm erfahren haben, sind das Fundament, auf dem der Bund, die Partnerschaft zwischen Gott und den Menschen aufbaut. Gott lieben, setzt voraus, ihm zu begegnen oder die Begegnung mit ihm wahrzunehmen und zu deuten. Das gilt für das Volk Israel und für jeden glaubenden Menschen.
Ich wage die These, dass man Gott wirklich aus ganzem Herzen lieben kann wie einen anderen Menschen. Voraussetzung dafür aber ist der Mut zur Begegnung. Wie in menschlichen Beziehungen gehe ich damit das Risiko ein, enttäuscht zu werden, weil mir seine Wege fremd bleiben, ich anderes erwarte als das, was geschieht, Zweifel an seiner Nähe aufkommen und ich mich in den Tälern des Lebens allein gelassen fühle. All diese Durststrecken kann der Glaube durchstehen, wenn er nicht nur im Kopf geschieht, sondern im Herzen eingepflanzt ist und sich festklammert an dem Vertrauen in Gott. Das ist nicht anders bei liebenden Menschen, die auch Zeiten der Entfremdung durchmachen müssen. Folge ich dem Kopf, der die Enttäuschungen zählt, die der andere Mensch mir zufügt, dann hat die Liebe keine Chance. Folge ich dem Herzen, das tiefer sieht und immer Hoffnung hat, dann sehe ich die gemeinsame Zukunft.
Wage ich die Liebe, dann kann sie aber zu einer Macht werden, die stärker ist als alle anderen Mächte der Welt. Sie wird oft unterschätzt und für naiv gehalten, aber keine Kraft kann mehr bewirken als sie. Davon war schon der Kirchenvater Augustinus überzeugt. Für ihn, der selbst Menschen, die ihn liebten, seine Mutter und die Mutter seines Sohnes, schwer enttäuschte, ist die Liebe die Erfahrung des Guten in der Welt schlechthin. „Augustinus verstand Liebe umfassender, als es heute üblich ist. Es ging ihm nicht nur um die Liebe zwischen Partnern, Freunden oder Eltern und Kindern. Es ging ihm um die Liebe als universelle Haltung, als alles durchdringende Kraft, die alle Menschen miteinander verbindet“, so die Autoren Tobias Hürter, Niels Boening und Katrin Zeug in einem Essay über die Liebe. (ZEIT Wissen 3/2022). Diese Macht der Liebe, die stärker ist als alles Dunkel, ist sichtbar in dieser Welt.
Sie wirkt, wenn am Samstagmorgen Tausend Freiwillige vor dem Krisenkoordinationszentrum in Valencia stehen, um mit Bussen in die Gebiete im Südosten Spaniens zu fahren, in denen die verheerenden Regenfälle und Unwetter der letzten Tage die schlimmsten Schäden angerichtet haben. Eine Frau erzählte im Radio, dass sie fünf Kilometer zu Fuß über die Autobahn ging, um dort zu helfen, wo kein Einsatzfahrzeug hinkommt.
Sie wirkt in jungen Menschen, die nach der Schule für ein halbes Jahr oder länger in Afrika als Volunteers mit Straßenkindern, Waisen und Schulkindern arbeiten oder sich in Projekten zum Schutz für Wildtiere engagieren und danach in ihren Pfarreien und Freundeskreisen kreative Ideen entwickeln, um weiter Spenden für die Menschen und Tiere zu sammeln, die ihnen ans Herz gewachsen sind.
Sie wirkt in den vielen Menschen jeden Alters, die in den vergangenen Tagen nicht aus Pflichterfüllung, sondern aus innerer Verbundenheit heraus, die Gräber ihrer Familien besucht, hergerichtet und geschmückt haben. Sie haben für sie gebetet, weil sie wissen, dass der Tod nicht das letzte Ende sein kann. Denn unsere Heilige Schrift sagt uns, dass die Liebe stark ist wie der Tod.
Menschen geben Zeugnis von dieser Liebe, die alles Böse besiegen kann, wenn sie trotz aller Rückschläge sich für Frieden und Versöhnung einsetzen, sich der Menschen annehmen, die als Flüchtlinge in unser Land kommen, oder Brücke bauen in einer Gesellschaft, die immer mehr in Gefahr gerät, zerrissen und gespalten zu werden.
Liebe muss nicht romantisch sein, sie kann auch mit voller Wucht in dieser Welt auftreten. Immer aber braucht sie ein Gegenüber, ein Du, auf das sie zielt. Für dieses Du nimmt der liebende Mensch die Welt und die Zeit wachsam und kritisch wahr und stellt sich dem entgegen, was den Geliebten bedroht.
In keiner anderen Gestalt ist dieser Einsatz für den Geliebten so wirklich geworden wie in der Hingabe Jesu am Kreuz für die Menschheit, die Gott liebt. Erich Fromm schrieb: „Liebe ist tätige Sorge.“ Diese Erfahrung machen wir im eigenen Umfeld durch so viele Menschen, die mehr für uns tun, als wir es je einfordern könnten. Wir sehen sie in so vielen Beispielen, die Menschen für den Aufbau einer gerechten und solidarischen Welt geben. Sie lässt uns nicht träumen, dass morgen alle Kriege vorbei sind oder alle Menschen sich liebhaben, aber sie lässt uns hoffen, dass sich immer mehr Menschen von ihr anstecken lassen und so beitragen, dass die Liebe zu Gott und den Menschen zum Grundgesetz für das gemeinsame Haus des Lebens wird. Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst – etwas Besseres kann der Menschheit nicht passieren. Amen.
Sven Johannsen, Pfarrer.
Allerheiligen "Gefüllte Stille"
Predigt Allerheiligen 2024 - Gefüllte Stille
Liebe Schwestern und Brüder
Haben Sie es heute Nacht gehört oder besser nicht gehört: Nichts! Seit 02.00 Uhr herrscht Stille in den Diskotheken, Bars und Kneipen unserer Stadt. Allerheiligen ist einer der stillen Tage. Stille Tage - das ist der erste Eindruck, den der November hinterlässt. Gleich viermal wird die Partyszene in unserer Stadt und im ganzen Land ausgebremst:
an Allerheiligen, am Volkstrauertag, am Buß- und Bettag und am Totensonntag gilt ein Tanzverbot. Die schönste Halloween-Party musste heute um 02.00 Uhr morgens verstummen und dem Hochfest Allerheiligen weichen. Aber Stille gefällt nicht jedem.
Es gibt Erfahrungen von Stille, die fürchten wir Menschen:
Peinliche Stille, wenn man nicht weiß, was man sagen soll, z.B. bei einem Kranken- oder Trauerbesuch, Eine unangenehme Erfahrung, die manchen davon abhält, überhaupt in ein Krankenhaus zu gehen, oder Trauernde Menschen anzusprechen. Sprachlose Stille, weil wir entsetzt Krankheit, Tod, Schicksalsschläge, Gewalt erleben und nicht in Worte fassen können, was uns bewegt.
Verordnete Stille nervt v.a. Kinder und Jugendliche, z.B. in der Schule oder aber auch daheim, wenn andere ihre Ruhe haben und nicht gestört werden wollen.
Stille, die endlos wirkt, quält Menschen, weil man oft im Alter einsam geworden ist, der Kreis der Menschen, sei es Ehepartner, Freunde, Nachbarn, kleiner geworden ist, die Kinder keine Zeit haben und man selbst nicht in der Lage ist, den ersten Schritt auf andere zuzumachen, so dass Tage endlos werden, belastet von einer Stille, die übertönt wird von Fernsehen und Radio.
Stille kann unerträglich, peinlich, belastend sein
Stille kann unruhig, panisch und aggressiv machen
Stille kann niederdrücken, traurig und einsam wirken.
Kein Wunder, wenn Menschen versuchen, der Stille aus dem Weg zu gehen, sich abzulenken und zu unterhalten. Immer mehr Menschen haben ein wirkliches Problem mit Lautlosigkeit, Geräuschlosigkeit und Stille. So wundert es nicht, dass sich lauter Protest erhebt, wenn der Staat die Menschen zur Ruhe zwingt und stille Tage wie heute festsetzt.
In Bayern haben wir acht sogenannte „Stille Tage“ Aschermittwoch, Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag und eben die o.g. Feiertage im November (Allerseelen ist dagegen ausgenommen), an denen von 02.00 Uhr bis 24.00 Uhr ein Tanzverbot besteht und Unterhaltungsveranstaltungen nur erlaubt sind, wenn sie dem ernsten Charakter der Tage entsprechen. Gegen diesen „Zwang zur Stille“ regt sich schon seit einiger Zeit Proteste von verschiedenen Gruppen. Der Bund für Geistesfreiheit und andere Gruppen hatte am Gründonnerstag zu Demonstrationen aufgerufen und politische Parteien im Verbunde mit dem Gaststättenverband, der die Interessen der Diskotheken vertritt, argumentieren schon lange: Stille Tage sind nicht mehr zeitgemäß, zumindest einige wie eben Allerheiligen. Unsere Gesellschaft ist in den Augen vieler Zeitgenossen nicht mehr christlich geprägt, so dass der Staat hier nicht im Namen der Religion Zwang auf Bürger ausüben darf, die nichts mit Glauben und Kirche am Hut haben. Zu Recht verweist der Gaststättenverband auf das schizophrene Verhalten des Gesetzgebers, der Tanzveranstaltungen verbietet, aber Sportveranstaltungen zulässt und auch kein Problem damit hat, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen an diesen Tag Horror- und Actionfilme sendet oder die Politiker selbst sich am Aschermittwoch auf ihren Kundgebungen mitunter unpassend gebärden. Letztlich können wir nur anerkennen: Die Lebensgewohnheiten der Menschen haben sich geändert und da stört die Stille nur. Sind stille Tage dann nicht aus der Zeit gefallen?
Ich müsste dieser Sicht zustimmen, wenn Stille nur eine erzwungene Lautlosigkeit wäre. Aber für uns Christen bedeutet Stille mehr als das Fehlen von Lärm und Geräuschen: Stille ist die Grundvoraussetzung für Gotteserfahrung. Für Menschen ohne Glauben, mag es keine Begegnung mit Gott sein, aber eine Sinnerfahrung bleibt es allemal. Es gibt für uns eine Stille, die nicht aus Sprachlosigkeit und Entsetzen, aus Langeweile und Einsamkeit kommt, sondern aus dem Erleben der Tiefe, des Geheimnisses unseres Lebens und der Gegenwart Gottes. Es gibt Momente, die bringen uns zum Schweigen:
- Ein Sonnenaufgang über der Wüste
- Eine herbstliche Farbenfülle in der Rhön
- Ein Moment tiefen Glücks, das wir nicht zerreden wollen.
Es gibt Momente, die lassen uns still werden, weil wir spüren, dass sie das Normale, Alltägliche übersteigen und uns eine andere, tiefere, ja jenseitige Erfahrung machen lassen, die durch Reden nur gestört wird. Romano Guardini hat in Worte gefasst, was Menschen brauchen, wenn er sagt: „Immer sollte in uns die Stille sein, die nach der der Ewigkeit hin offensteht und horcht.“
Für den glaubenden Mensch ist mit der Stille also der Blick über die Grenze verbunden, das Offensein für die Ewigkeit. In diesem Sinn ist Allerheiligen von seinem Wesen her tatsächlich ein stiller Tag, nicht nur weil am Nachmittag der Friedhofsbesuch in unserer Tradition beheimatet ist. Auch die eher festlich, fröhlich geprägte Liturgie des Morgens ist ganz durchdrungen von der Offenheit für die Ewigkeit. Die beiden Lesungen aus der Offenbarung und aus dem ersten Johannesbrief werfen einen Blick hinter jenen Horizont, der uns oft wie eine verschlossene Mauer erscheint. Die Offenbarungslesung wagt aus dem Rückblick eine Vorausschau. Der Autor, der die Verheißungen des Alten Testamentes vom großen Tag Jahwes kennt, ermutigt die Christen seiner Gemeinde darauf zu vertrauen, dass die Bedrängnis, die sie im Augenblick erleben, nicht das Letzte sein will. Am Ende setzt sich Gott durch und vollendet diese Welt. Der Johannesbrief ermutigt seine Leser, Großes von sich und der Zukunft zu denken: „Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Jeder, der dies von ihm erhofft, heiligt sich, so wie Er heilig ist.“
Beide Texte sind von sich aus nicht objektiv beweisbar. Sie beschreiben eine künftige Wirklichkeit, die wir nicht messen oder mit allgemein akzeptierten Fakten belegen können. Und doch sprechen sie jeden Menschen in einer Tiefe an, in der seine Sehnsucht nach Heil und Leben zum Klingen kommt. Sie sind nicht einfach eine Vertröstung auf das Jenseits, sondern Einsicht in die größeren Möglichkeiten Gottes, die der Mensch bejahen kann als die positive Grundoption seines Lebens. Wer in die Stille geht, der spürt, dass in ihm eine Dimension des Lebens ruht, die mehr will als das, was sich beweisen und belegen lässt, die nach dem Mehr der Ewigkeit ruft. Lothar Zenetti hat das so ausgedrückt:
Menschen, die aus der Hoffnung leben, sehen weiter;
Menschen, die aus der Liebe leben, sehen tiefer;
Menschen, die aus dem Glauben leben, sehen alles in einem anderen Licht.
Stille, die für die Ewigkeit offen ist, wird konkret einer Hoffnung, die weitersehen lässt, in einer Liebe, die tiefer sieht, und einem Glauben, der alles in einem anderen Licht sieht. Dafür stehen ja die Heiligen, die wir heute ehren, dass sie nicht aus der Welt geflohen sind, aber tiefere Gesetzmäßigkeiten für ihr Leben erkannt haben als die Meinungen und Stimmungen ihrer Zeit. Offen für die Ewigkeit und doch im Hier verankert, mit dem Ohr bei den Menschen und bei Gott so zeichnen sie sich aus.
Stille ist für uns nichts Bedrohliches, nichts Fremdes. Romano Guardini ordnet der Stille in seinen Gedanken zu den heiligen Zeiten die Mittagszeit, also die Mitte des erlebten Tages zu. Während am Morgen das Leben anhebt mit vielen Plänen und Ideen und am Abend die Müdigkeit das Leben zur Ruhe kommen lässt, ist für ihn der Mittag die Fülle des Tages, jener Moment, der ganz Gegenwart ist. Die Gegenwart aber ist der Nachbar der Ewigkeit. Für Guardini verkörpert Maria den Menschen des Mittags. Sie schweigt, eilt nicht, schaut nicht voraus und nicht zurück, sie ist ganz in der Gegenwart. Schweigen ist für den christlichen Glauben nicht Träumen, sondern gegenwärtig und wach sein für den ewigen Gott, der in unsere Zeit hineinspricht.
Eine solche Stille, wach für die Gegenwart und offen für die Ewigkeit, zeichnet den heutigen Tag aus. Wir spüren gerade auch in der Konfrontation mit unserer Endlichkeit wie sehr das Unendliche uns doch schon berührt. So erschließt uns Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ in der letzten Zeile wohin der heutige Tag, der stille Tag Allerheiligen, Menschen führen möchte:
„Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang, der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.“
Seine verordnete Stille im Gefängnis weiß Bonhoeffer eingebettet in einen vollen Klang, den auch seine Wärter nicht unterdrücken können. Während es ihm in der Untersuchungshaft in der Prinz-Albrecht-Straße nicht möglich ist, die Gesänge des Weihnachtsfestes zu singen, weitet sich der Lobgesang jener größeren Welt Gottes, der himmlischen Kirche, aber auch der Menschen, die singen, während er schweigen muß. In der Stille hört er die unsichtbare Welt singen, jenen vollen Klang des hohen Lobgesangs der Gotteskinder zu allen Zeiten, gestern, heute und auch morgen.
So darf er Mensch sich wünschen, was wir in einem neuen geistlichen Lied singen:
„Meine Seele ist stille in dir. Denn ich weiß, mich hält deine starke Hand. Auch im dunklen Tal der Angst bist du da und schenkst Geborgenheit. Meine Seele ist stille in dir.“ Amen. Sven Johannsen, Pfr.
30. Sonntag B "Der Glaube ist (k)ein Wunschkonzert"
Predigt 30. Sonntag B „Der Glaube ist (k)ein Wunschkonzert“
Liebe Schwestern und Brüder
Kinder wissen es besser als wir: keine zwei Monate mehr, dann ist Weihnachten. Die Zeit der großen Wünsche beginnt bald. Strategisch denkende Kinder halten jetzt schon die Augen offen, wenn sie durch Spielzeugabteilungen von Kaufhäusern gehen, im Fernsehen bzw. im Internet Werbung für die neuesten Spiele für die Xbox gezeigt wird, Playmobil sein neues Space Shuttle anpreist oder Lego seinen neuen Formel1-Rennwagen-Bausatz vorstellt. Bald beginnt die Zeit für lange Wunschzettel und das ständige Bedrängen der Eltern: „Das muss ich unbedingt haben.“ Irgendwann wird es dann auch den geduldigsten „Wünsche-Erfüllern“ zu viel und es kommt die barsche Antwort: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Dahinter steckt viel Lebenserfahrung: Wir können uns noch so viel im Leben und vom Leben wünschen, in der Regel müssen wir mit Enttäuschungen umgehen. Das Leben ist kein Ponyhof und kein Wunschkonzert. Ich kann mir vieles wünschen: Glück, Wohlstand, Zufriedenheit, eine gute Partnerschaft, Gesundheit … Für die Erfüllung mancher Sehnsucht kann ich meinen Beitrag leisten durch eigene Bemühungen und Anstrengung, aber in der Regel muss ich mich damit abfinden, dass ich meist leer ausgehen bzw. mit ungewünschten Ereignissen und Enttäuschungen zurechtkommen muss. Auch der Glaube bewahrt uns nicht vor dieser Ernüchterung. Ich weiß ja, dass Gott kein Fetisch ist, den ich reiben muss und dann erfüllen sie alle meine Wünsche, aber manchmal muss auch der glaubende Mensch damit ringen, dass Gott so wenig auf die Bitten in seinem Gebet hört. Es sind ja in der Regel keine übertriebenen Forderungen, die wir an Gott stellen, sondern Hoffnungen auf ein klein wenig Wohlergehen im Leben, die wir vor ihn tragen, und dennoch haben wir keine Garantie, dass Gott auch nur im mindesten darauf eingeht.
Dagegen werden wir heute im Evangelium mit der erstaunlichen Geschichte des Blinden Bartimäus konfrontiert. „Was willst du, dass ich dir tue?“, fragt Jesus. Und auf die kaum ausgesprochene Bitte des Bartimäus, wieder sehen zu können, erfüllt ihm Jesus schon den Wunsch. Da kann man ein wenig neidisch werden. Leben wir in der falschen Zeit? Hätte Jesus uns damals auch alle Wünsche erfüllt? Oder ist es etwa so, dass Gott andere Menschen bevorzugt? In der Regel schieben wir das heutige Evangelium von der Heilung des Bartimäus in den Bereich der Kinder- und Familiengottesdienste ab, so leicht verständlihc scheint das Wunder, das hier geschieht, zu sein, dass man Kindern damit gut erklären kann, wie lieb Jesus ist. Aber liest man das Evangelium im Kontext der größeren Erzählung, in die Markus sie stellt, dann dringt man schnell in tiefere Schichten des heutigen Wunderberichts vor.
Markus berichtet von der Heilung des Bartimäus an einer Schlüsselstelle seines Evangeliums. Jesus kommt ein letztes Mal nach Jericho. Jericho ist die tiefst gelegene Stadt der Welt, etwa 250 Meter unter dem Meeresspiegel. Jesus ist oft durch Jericho gekommen. Der Weg von Galiläa nach Jerusalem führt entweder über das Hochland, durch Samarien, heute das palästinensische Autonomiegebiet. Oder die Pilger gehen durch die Jordansenke bis nach Jericho, von wo dann der Weg steil hinauf ins Bergland von Judäa führt, nach Jerusalem, mit einem Höhenunterschied von gut 1000 Metern. Von der Oasenstadt Jericho, der ältesten Stadt der Welt, steigt auch Jesus zum letzten Mal hinauf nach Jerusalem, um das Osterfest zu feiern. Er weiß, dass der Weg durch das Kreuz zur Auferstehung führen wird. Seinen Jüngern hat er das seit dem Verlassen von Caesarea Philippi zwei Kapitel vorher immer wieder angekündigt, stieß aber weitgehend auf taube Ohren oder sogar Widerspruch. Den ganzen Weg über hat er sie belehrt, dass Jüngerschaft bedeutet, ihm auf dem Kreuzweg zu folgen und sein eigenes Kreuz auf sich zu nehmen. Die Jünger aber hörten nicht hin und stritten lieber darüber, wer von ihnen der Größte ist. Jesus wollte ihnen die Augen öffnen für das, was Nachfolge bedeutet. Am letzten Sonntag hat er es ihnen aufgezeigt am Beispiel der Mächtigen, die andere Menschen ausbeuten und unterdrücken, und gemahnt: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Aber ganz offensichtlich sehen die Jünger den richtigen Weg noch nicht. In Jericho angekommen ist die Atmosphäre spannungsgeladen. Viele fragen, ob Jesus sich in Jerusalem als Messias offenbaren wird. Alle erzählen von seinen Wundern und davon, dass er das Reich Gottes als ganz nahe angekündigt hat. Auch ein blinder Bettler hat von Jesu Heilungen gehört, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Wer kennt schon den Namen der Bettler? Meist sitzen sie unbeachtet am Straßenrand. Dabei dürfte Bartimäus bessere Zeiten gekannt haben. Erst als er durch eine der damals (und heute noch) häufigen Augenkrankheiten erblindet war, ist er zum Bettler geworden, hilflos angewiesen auf die Wohltätigkeit der anderen. Aber genau dieser blinde Bettler wird zum Vorbild des Glaubens. Jesus erfüllt ihm nicht einfach seinen Wunsch, vielmehr hat er erkannt, welches Potential der Nachfolge in Bartimäus steckt. Sein zweimaliger Ruf „Sohn Davids“ lässt annehmen, dass er körperlich blind richtig erkannt hat, wer da durch die Straßen Jerichos geht: der Messias, der von Gott zugesagte Retter, von dem der Prophet Jesaja sagt: „Ich, der HERR, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse dich an der Hand. Ich schaffe und mache dich zum Bund mit dem Volk, zum Licht der Nationen, um blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und die im Dunkel sitzen, aus der Haft.“ (Jes 42,6-8) Sein fester Glaube lässt sich auch vom Unwillen der Leute, die Jesus begleiten, nicht abweisen. Dieser Glaube macht ihn gemäß dem Wort Jesu heil: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet“ Aber Bartimäus geht jetzt nicht einfach seinen Weg, sondern folgt Jesus nach. Markus benutzt ein wunderbares Wortspiel, um die Größe des Glaubens des Bartimäus zu beschreiben: Am Anfang sitzt der blinde Bettler Bartimäus am Weg und hört, dass Jesus kommt. Am Ende folgt der sehende Jünger Bartimäus Jesus auf seinem Weg nach. Er freut sich nicht nur über die Heilung, er geht jetzt den Weg zu Kreuz und Auferstehung mit, weil er in Jesus den Sohn Gottes erkannt hat. Das heutige Evangelium ist also mehr als eine erbauliche Wunderheilung, es erzählt von einer Jüngerberufung, weil ein Mensch richtig sehen gelernt hat.
Bleibt aber die Frage nach der einfachen Wunscherfüllung. Wir sind ja auch bemüht, den Weg des Glaubens ernsthaft und konsequent zu gehen. Warum erfüllt uns Jesus nicht einfach unsere tiefsten Wünsche. Dann würde unser Glauben doch noch stärker werden.
Kennen wir unsere tiefsten Wünsche für das Leben? Da sind wir schnell sehr sicher: Gesundheit, eine glückliche Familie, Liebe, Wohlergehen für alle, die mir verbunden sind… Ist das so sicher?
Der russische Regisseur Andrei Tarkowski erzählt in seinem 1978 entstandenen Klassiker „Stalker“ von einem Professor und einem Schriftsteller, die sich auf die Suche machen nach einem „Raum der Wünsche“. An diesem Ort, so eine alte Legende, gehen die geheimsten, innigsten Wünsche in Erfüllung. Der Schriftsteller wünscht sich seine seit einiger Zeit fehlende Eingebung zurück. Über die Motivation des Professors erfährt man zunächst nichts. Geführt werden sie von einem „Stalker“, einem „Ortskundigen“. Sie sprechen über ihre Absichten, Hoffnungen und auch Zweifel. An einer Stelle erzählt der Stalker von seinem Vorgänger als Führer „Dikoobras“. Wie den anderen Stalkern war auch ihm verwehrt, selbst durch das Zimmer zu gehen. Er tat es dennoch, um seinen Bruder, den er aus Habgier auf dem Gewissen hatte, wieder zum Leben zu erwecken. Als Dikoobras aus der Zone, in der Raum der Wünsche liegt, zurückkehrte, wurde nicht sein Bruder wieder lebendig, aber er wurde unermesslich reich. Er erschrak: nicht das Leben seines Bruders war sein innigster Wunsch, seine Habgier war größer. Er verzweifelte. (vgl. Was Hoffnung für Christen bedeutet, in: Sonntagsblatt, Evangelische Wochenzeitschrift für Bayern; v. 29.9.2019)
Hätten wir Gelegenheit, in einen Raum der Wünsche zu treten, vielleicht würde auch uns ein ganz anderer Wunsch erfüllt als der, den wir vortragen. Vielleicht bekäme derjenige, der sich eine Million Euro wünscht, etwas ganz anderes. Genauso wie der, der sagt: "Ich will bei Gott sein."
Kennen wir unsere innersten Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche?
Der Raum der Wünsche ist nur eine fiktive Erzählung. Aber das Evangelium des heutigen Sonntags kann uns nachdenken lassen, welche Antwort wir Jesus geben würden auf seine Frage: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Sehe ich wirklich, was für mein Leben entscheidend ist und was ich brauche, oder lass ich mich blenden von der Sehnsucht nach einem kleinen bisschen Glück, auf das ich Anrecht zu haben glaube. Bartimäus hat erkannt, dass sein tiefster Wunsch ist, Jesus auf den Weg zu folgen. Dann aber ist es nicht mehr so wichtig, alle Schwierigkeiten und Gefahren im Vorhinein zu sehen, sondern seinem Glauben zu vertrauen und in Jesus den Weg zum Leben zu erkennen. Amen. Sven Johannsen, Pfr.
29. Sonntag B "In der letzten Bank"
Predigt 29. Sonntag im Jahreskreis B - „in der letzten Bank“
Liebe Schwestern und Brüder
in der letzten Bank einer Kirche treffen die katholische Ordensfrau und Professorin Melanie Wolfers und der evangelische Pastor Julian Stengelmann Menschen, die herausfordernde Lebenssituationen gemeistert haben, und sprechen mit ihnen über die großen Fragen des Lebens: „Woran merke ich, was mir wirklich wichtig ist? Was gibt mir Kraft nach einer Lebenskrise weiterzumachen?“ Seit einigen Wochen läuft im ZDF ein neues Talkformat mit den beiden Theologen, das den Titel trägt „Die letzte Bank - Fragen an das Leben“. Auf der ZDF Homepage wird die Reihe kurz beschrieben mit der Erklärung: „Authentische Lebenshilfe-Talk der Kirchen: über Höhen und Tiefen, Herausforderungen und Chancen, Spiritualität und Glaube.“ (www.zdf.de/gesellschaft/die-letzte-bank)
Abwechselnd laden Melanie Wolfers und Julian Stengelmann Menschen ein, sich mit ihnen in die hinterste Bank einer Kirche zu setzen und von Momenten und Ereignissen zu erzählen, die ihr ganzes Leben verändert haben. Bei ihnen saßen bisher vier Frauen: Eine werdende Mutter erlebt bei der Geburt ihres ersten Kindes physische und psychische Gewalt durch die Hebamme; eine andere Frau muss nach einen schweren Unfall so starke Schmerzmittel nehmen, dass alle emotionalen Empfindungen und v.a. die Liebe zu ihrem Mann verloren gingen; die dritte Frau gerät in die „Mama-Falle“ und erlitt einen Nervenzusammenbruch, weil sie sich über alle Grenze geht und sich für ihre Kinder aufopfert; eine engagierte Lehrerin spürt, dass sie, um nicht auszubrennen, etwas in ihrem Leben ändern muss. Sie wirft alles hin und begibt sich auf einen ganz neue Wege. Sehr unterschiedlich stellen sich die Erfahrungen der Frauen da. Manche haben Entscheidungen getroffen, die nicht von allen Zuschauern verstanden und bejaht werden. Auch dieses Risiko nehmen sie in Kauf.
Es sind sehr berührende und bewegende Gespräche, die Wolfers und Stengelmann an diesem ungewöhnlichen Ort „Die letzte Bank“ führen. Warum aber gerade dort?
Melanie Wolfers erklärt in einem Gespräch mit katholisch.de, „die letzte Bank sei häufig der Platz für Menschen, die oft gar nicht viel mit der Kirche zu tun haben, aber sich die Kirche anschauen und den Raum auf sich wirken lassen wollen. Oder sie suchten einen Moment der Stille, um innezuhalten und Gedanken zu sortieren.“ (https://katholisch.de/artikel/56740-ordensfrau-moderiert-neues-zdf-format-was-bewegt-sie)
In der hintersten Bank trifft man mitunter interessante Menschen. Dort lassen sich außerhalb der Gottesdienste Zeitgenossen nieder, die vielleicht die Sicherheit brauchen, möglichst schnell aus dem Gotteshaus flüchten zu können, wenn sie sich unwohl fühlen, oder die den Eindruck haben, dass sie nicht zur normalen Gemeinde passen, weil in ihrem Leben manches nicht so läuft, wie es die Kirche lehrt. Es können auch Menschen sein, die uns auf die großen Fragen des Lebens stoßen, die sich eben gerade in Krisenerfahrungen auftun: Wofür lebe ich? Wie komme ich wieder auf, wenn das Leben mich zu Boden geworfen hat? Was gibt mir Kraft und Halt in allen Umbrüchen? Um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, muss ich mich dann in die hinterste Reihe setzen und nicht auf den vordersten Plätzen warten.
Vielleicht verwehrt Jesus den Jüngern aus diesem Grund ihren Wunsch nach den Ehrenplätzen. Es ist weniger eine Herabsetzung, dass Gott möglicherweise andere bedeutender findet, sondern die Wahrnehmung dafür, wo Gott selbst sitzt: eher bei denen, die die Fragen nach Leben und Sinn stellen, als bei denen, die sich ehren lassen und aus Prestigegründen mit hervorgehobenen Plätzen belohnt werden wollen. Wenn die Jünger den Platz neben Jesu suchen, dann kann es sein, dass es nicht um festlich geschmückte Throne handelt, sondern um die hinterste Bank im Leben. Das macht Jesus ihnen deutlich. Direkt vor dem heutigen Evangelium hören wir die dritte Ankündigung Jesu, dass er leiden und gekreuzigt werden muss und nach drei Tagen auferstehen wird. Ich will nicht unterstellen, dass Jakobus und Johannes die Worte Jesu ignorieren oder nicht ernst genommen haben, aber sie sind mit ihrem Wunsch schon einen Schritt weiter: Sie konzentrieren sich ganz auf die himmlische Herrlichkeit, in der sie nach ihrer Einschätzung für alles belohnt werden sollen, was sie hier in der Nachfolge Jesu erdulden und leisten. Darüber hinaus versteckt sich in der Frage um die Platzverteilung ein verdeckter Wunsch nach Macht. Das erkennt Jesus und ruft den Jüngern das genuin Christliche in Erinnerung: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ Die Worte Jesu sprechen für sich selbst und brauchen keine Erklärungen. Wir wissen, wie schwierig dieser Weg der Nachfolge im Dienen ist, aber er bleibt unabdingbar. Dienen ist für Jesus nicht allein die Aufgabe von Untergebenen. Den Menschen und Gott dienen, ist Auftrag aller Jüngerinnen und Jünger, unabhängig von Stand und Titel. Dass dieses Ideal oft nicht der Wirklichkeit in der Kirche entspricht, muss ich nicht näher ausführen. Ich denke aber, dass es zu kurz gegriffen ist, deshalb in schöner Regelmäßigkeit die sog. „Würdenträger“ unserer Kirche zu kritisieren. Es geht auch um uns. Auch wenn unsere Macht nur begrenzt ist, haben wir Macht über Menschen in unseren Familien, in unseren Berufen, in unserer Gemeinde. Als Gemeindeteam, Pfarrer, Eltern, Kirchenverwaltungen, Vorgesetzte treffen wir Entscheidungen und andere müssen mit ihnen leben. Immer sind Aufgaben und Funktionen mit Macht verbunden. Die wichtigen Fragen dabei sind die Art und Weise wie Entscheidungen zustande kommen und mitgeteilt werden, also wie Macht ausgeübt wird, und wie die, die Macht innen haben, sich selbst verstehen und wahrgenommen werden. Gerade den letzten Aspekt halte ich für wesentlich. Auch Jesus hatte Macht. Es war seine Entscheidung, den Weg von Galiläa nach Jerusalem anzutreten, weil er darin seine Sendung erkannte. Die Jüngerinnen und Jünger wurden nicht gefragt, sondern folgten ihm. Aber Jesus als Kopf der Bewegung beschreibt sein Selbstverständnis als „Diener aller“. Sein Beispiel setzt den Maßstab: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, er soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“
Immer wieder macht er deutlich, dass er für sich, obwohl er der Sohn Gottes ist, nicht den ersten Platz beansprucht, sondern sich dort richtig weiß, wo er den Menschen begegnet, die ihn als Arzt für ihren Seelen brauchen, eben oft in der hintersten Bank.
Das Evangelium ist keine hämische Bloßstellung der Mächtigen, sondern eine Platzanweisung, wo die hingehören, die in besonderer Verantwortung für das Zeugnis der frohen Botschaft stehen.
Vor wenigen Tagen überraschte Papst Franziskus einmal mehr die katholische Welt mit unerwarteten Ernennungen von Bischöfen und Priestern zu Kardinälen. Erneut stehen v.a. Vertreter der Kirche an den Rändern im Fokus, während die beleidigten Kirchen in Europa, v.a. in Deutschland, übergangen wurden. Den mit dieser Auszeichnung geehrten Geistlichen schrieb der Papst einen Brief, in dem er aufzeigte, wie sie ihr Kardinalsamt verstehen sollen. Die Verantwortung als Kardinal sei, so der Papst, nicht in erster Linie ein Privileg, sondern umfasse vor allem den Dienst an den Leidenden und die Pflege des geistlichen Lebens. Er legt den neuen Purpurträgern drei Haltungen als Tugenden ans Herz:
„Augen hoch, Hände gefaltet, Füße bloß“
Seine engsten Mitarbeiter sollen die Augen aufmachen und über den eigenen Horizont und die eigenen Interessen die Anliegen der gesamten Kirche und der Menschheit im Blick behalten.
Sie sollen Menschen des Gebets sein und aus der Verbindung mit Gott die Orientierung bekommen für ihr Leben und ihre Amtsführung. Gott selbst führt seine Kirche und sein Wille für das Volk Gottes ist ihre Richtschnur.
Die Mahnung „Füße bloß“ verweist schließlich auf die Notwendigkeit, sich der Realitäten der Welt bewusst zu sein. Papst Franziskus betont, dass die Kardinäle bereit sein müssen, die Härte des Lebens in all seinen Formen – sei es Krieg, Verfolgung, Diskriminierung oder Armut – zu berühren. Sie sind aufgerufen, Mitgefühl und Barmherzigkeit zu zeigen und den Menschen in ihrem Leid beizustehen.
In der hintersten Bank der Kirche lässt sich gut der Blick auf das Ganze weiten, im Gebet verweilen und ins Gespräch kommen mit den Menschen in ihren Freude und Hoffnung, ihrer Trauer und Angst, um so das Beispiel Christi nachzuahmen.
Die hinterste Bank ist nicht nur der Platz für Talkformate und Würdenträger, sondern für uns alle, die Christus nachfolgen, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. Amen Sven Johannsen, Pfarrer
28. Sonntag B "Vom Besitz auf der Erde und Schätzen im Himmel"
„Wie reich sind Sie?“ - Auf diese Frage hat Olaf Scholz vor längerer Zeit (er war noch nicht Bundeskanzler) gesagt, dass er zwar ganz gut verdiene, aber als reich würde er sich nicht empfinden. Das hatte damals Unverständnis und Diskussionen ausgelöst. Später hatte er eine andere Antwort gefunden, nämlich dass man mit seinem Gehalt in Deutschland reich sei.
Tja, hat Herr Scholz und alle anderen Reichen (z.B. auch Friedrich Merz, der zwei Privatflugzeuge besitzt) noch eine Chance, in den Himmel zu kommen? Ein Kamel passt nun mal durch kein Nadelöhr. So hat nach den Worten von Jesus kein Reicher eine Chance, ins Reich Gottes zu kommen. Oder wie meinte es Jesus?
Nicht nur heute gibt es reiche Menschen, nicht nur zur Zeit Jesu, sondern auch schon im Alten Testament wird von reichen Menschen berichtet. Zum Beispiel war Abraham sehr reich. Im Buch Genesis berichtet sein Verwalter mit Stolz über ihn: „Der HERR hat meinen Herrn reichlich gesegnet, sodass er zu großem Vermögen gekommen ist. Er hat ihm Schafe und Rinder, Silber und Gold, Knechte und Mägde, Kamele und Esel gegeben.“ (Gen 24,35) Haben Sie es gehört: „Der Herr hat meinen Herrn reichlich gesegnet.“ Reichtum galt als Segen Gottes!
Ähnlich wird es auch von Salomo berichtet, wegen seiner Weisheit hochgelobt: „Alle Trinkgefäße des Königs Salomo waren aus Gold; ebenso waren alle Geräte des Libanonwaldhauses aus bestem Gold. … So übertraf König Salomo alle Könige der Erde an Reichtum und Weisheit.“ (1Kön 10,21.23) Ganz unbefangen und unbescheiden wird von seinem Reichtum erzählt.
Wenn man reich war, lag der Segen Gottes auf diesen Menschen - so war die Vorstellung.
Nun, viel später entstand das Buch der Weisheit, aus dem wir die Lesung gehört haben. Da hieß ist zum Reichtum, dass er nicht zu achten und die Weisheit allem vorzuziehen sei.
Ebenso gab es auch Kritik am Reichtum und an reichen Menschen im Alten Testament. Im Buch Kohelet macht sich der Weisheitslehrer darüber Gedanken, dass reiche Menschen nicht mehr gut schlafen können: „Dem Reichen raubt sein voller Bauch die Ruhe des Schlafs.“ (Kohl 5,11b)
Und es zieht sich durch das ganz Alte Testament die Verpflichtung, sich mit seinem Besitz für die Armen einzusetzen: „Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen.“ heißt es zum Beispiel im Buch Deuteronomium (Dtn 15,11b).
Das sind also die Einstellungen und Haltungen zur Zeit Jesu zur Reichtum und Armut, kurz gesagt: Reichtum galt als Ausdruck für den Segen Gottes, gleichzeitig auch als Verpflichtung, sich für die Armen einzusetzen.
Und jetzt kommt im Evangelium heute ein Mann auf Jesus zu. Vielleicht fühlte er sich wegen seines Reichtums gesegnet; vielleicht ging es ihm wie es im Buch Kohelet beschrieben war, dass sein Reichtum ihn nicht hat schlafen lassen. Alle Gebote hielt er ein, nur scheinbar nicht die, sich mit seinem großen Vermögen für die Armen einzusetzen.
Welche Antwort hatte er eigentlich von Jesus erwartet? Was erhoffte er, von Jesus zu hören? Dass er ihn von seinen Pflichten frei spricht? Dass Jesus sagt: reicht so, sehr gut, so erbst du das ewige Leben? Irgendwie vermute ich schon, dass ihm bewusst war, das noch etwas fehlt. Jesus macht ihm deutlich, was er möglicherweise auch schon geahnt hatte: Das mit deinem Reichtum, damit musst du noch etwas anfangen. „Verkaufe, was du hast, gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben.“ (Mk 10,21b)
Das ist sogar den Jüngern zu viel. Sie sind zunächst bestürzt. Als Jesus noch den Vergleich mit dem Nadelöhr sagt, „gerieten sie über alle Maßen außer sich vor Schrecken.“ (Mk 10, 26) Alles zu verkaufen und den Armen zu geben war ihnen zu viel. Sie selbst haben doch bereits alles verlassen, wirft Petrus eiligst in die Runde. Jesus beruhigt ihn mit der Zusage: Wenn jemand um seinetwillen und um des Evangeliums willen alles verlässt, wird das Hundertfache empfangen. (Mk 10,29)
Es fällt auf, was Jesus nicht zu Petrus und seinen Jüngern sagt: Er sagt ihnen nicht, dass auch sie alles verkaufen und es den Armen geben sollen. Er hat für jeden individuelle Antworten.
Denn es kommt ihm offensichtlich vor allem darauf an, das hinter sich zu lassen, was einen einengt, was jemanden hindert, das Evangelium in den Blick zu nehmen.
Es kommt ihm darauf an, nicht nur auf sich selber bezogen und auf das eigene Vermögen bedacht zu sein. Er möchte, dass man über sich hinaus schaut, über sich hinaus denkt; dass man auf das achtet, was es noch über den alltäglichen Spielraum alles gibt. Dem Mann sagt er, verlasse deinen Reichtum, denke an die Armen; es gibt auch noch die Wirklichkeit Gottes, folge mir nach.
Wie reich sind wir? Wie engt dies uns ein? Hindert unser Besitz uns, über uns hinaus zuschauen? Das können wir uns persönlich fragen. Das können wir uns auch als Kirche oder als Gesellschaft fragen.
Als Christen kennen wir das Dankgebet. Dies ist ein wichtiger und erster Schritt. Denn der Dank macht uns bewusst, dass wir uns vieles nicht nur verdienen können sondern auch vieles geschenkt bekommen. Der Dank öffnet uns auf Gottes Weite und zu unseren Mitmenschen. Jesus ist wichtig: Engt euch nicht ein. Lasst zurück, was hindert, durch ein enges Nadelöhr zu kommen. Dann erreicht man Gottes Weite.
Umgedreht kann man es auch so sehen: Man braucht überhaupt nicht viel, sonst kommt man durch ein Nadelöhr nicht durch.
Felix Lamprecht, Pastoralreferent
28. Sonntag B "Besitze ich das Geld oder besitzt das Geld mich?"
Liebe Schwestern und Brüder
„Er hat seine Seele verkauft und den Fußball verraten“ – Hart und unerbittlich fielen die ersten Reaktionen der Fans aus, als am Mittwoch bekannt wurde, dass Jürgen Klopp zum Unternehmen Red Bull als eine Art „Gesamtfussball-Chef“ zum Unternehmen Red Bull geht. Jürgen Klopp, Erfolgstrainer von Mainz 05, Borussia Dortmund und des FC Liverpool war immer eine Ikone des unverfälschten Fußballs, in dem Leistung und Talent mehr zählen als Millionen-beträge und die Erwartungen von Sponsoren. Er verkörperte das Ideal eines unabhängigen Trainers, der sich nicht unter das Dirigat von Investoren und Clubbesitzer beugte. Dann schlug diese Woche die Nachricht ein wie eine Bombe: Klopp wechselt zum Unternehmen Red Bull, dem mehrere Fußballvereine weltweit gehören, u.a. auch RB Leipzig. Seit langer Zeit schauen Journalisten und Fans mit Verachtung auf das Engagement des Getränke-Herstellers aus Österreich, weil sie darin eine Bedrohung für den Fußball als Sport sehen und befürchten, dass das Spiel zum Geschäft wird. Nun wechselt ausgerechnet die Lichtgestalt des alten Traums zum Unternehmen, das den Sport zu einer Branche seines Geschäftes gemacht hat. Das Urteil war schnell gefällt: „Verrat am Spiel und Verkauf an den teuflischen Gott Geld.“ Mittlerweile haben sich die ersten Rauchwolken gelichtet und es wird wieder nachgedacht. Manchem geht auf, dass der traditions-verbundene Fußball auch nicht so kommerzfrei war, wie man es sich idealerweise gewünscht hat und dass Jürgen Klopp auch in der neuen Position mit Leidenschaft junge Fußballtalente fördern kann.
Dennoch bleibt der bittere Nachgeschmack, dass Geld eine wichtige Rolle bei der Entscheidung gespielt hat. Geld stinkt eben nicht, regiert die Welt und hält sie am Laufen, so die langläufigen Einsichten des Volksmundes. Letztlich sind für viele Zeitgenossen Nachrichten wie die vom Wechsel des Meistertrainers Klopp zu einem Unternehmen Ernüchterung und Bestätigung, dass alles Engagement, Leidenschaft und Idealismus vom Geld gebrochen werden.
Das heutige Evangelium scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Ein junger Mann, in dem Jesus schnell das große Potential der Nachfolge entdeckt, scheitert am Geld bzw. am Verzicht auf das Geld. Der reiche Mann schätzt Jesu. Anders als die Pharisäer am vergangenen Sonntag, die Jesus mit der Frage nach der Ehescheidung konfrontieren, will er mit seinem Anliegen keine Falle stellen. Es geht ihm darum einen gelingenden Weg durch das Leben zu finden, den er vor Gott verantworten kann. Seine Lebensführung ist untadelig. Das erkennt Jesus an. Die Frage, ob er sich an die Gebote hält, kann er uneingeschränkt bejahen. Sicher könnte Jesus skeptisch werden, denn diese Bestätigung klingt vermessen. Wer kann von sich sagen, dass er alle Gebote befolgt? Aber Jesus erkennt, dass der junge Mann sich bemüht, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen und will ihm helfen, vollkommen zu werden. An diesem letzten Schritt aber scheitert er angesichts der Forderung, die Armen in den Blick zu nehmen und den eigenen Besitz loszulassen. Viele von uns können das Entsetzen der Jünger teilen, die darüber erschrecken, dass der Weg, den Gott für den Menschen vorgezeichnet hat, so radikal und bedingungslos aussehen soll. Wer kann das meistern? In der Frage der Jünger erkennt man die Sorge der nachösterlichen Gemeindemitglieder, die eben nicht wie Petrus und die anderen Apostel alles für Jesus verlassen hat, sondern noch immer Häuser und Acker besitzen.
Das Erschrecken wirft die Frage auf: Welches Problem haben die biblischen Schriften mit dem Geld? Scheinbar lehnen Jesus und die biblische Überlieferung materiellen Besitz radikal ab. Ist das so?
Ein Blick auf die Lesung aus dem Buch der Weisheit spricht eine andere Sprache. Der Autor, der von sich sagt, dass er die Weisheit mehr liebt als den Besitz, gilt als unermesslich reich. Die Tradition will als Urheber König Salomo, den für seine Weisheit, aber auch für sein Pracht und seinen Reichtum legendär gerühmten Sohn König Davids, ausmachen. Es ist kein armer Philosoph, der hier über die Schönheit des asketischen Lebens eines Denkers ins Schwärmen gerät. Salomo setzt die richtigen Prioritäten. Es geht ihm zuerst um Verstehen und Herzenswissen, das er sich von Gott erbittet. Daraus aber folgen für die Bibel auch Reichtum und Wohlstand, weil er die richtigen Entscheidungen trifft. Auch Jesus ist kein kämpferischer Reichen-Schreck. Seine Jüngergruppe hat eine gemeinsame Kasse, die von Judas verwaltet wird. Er kehrt bei reichen Pharisäern und Zöllnern ein und erzählt in seinen Gleichnissen von Gutsbesitzern, die unermesslichen Reichtum zur Verfügung haben. In der Auseinandersetzung um die Steuern gesteht er dem Kaiser seine Münzen zu, kritisiert aber auch das Fehlverhalten und die falsche Einstellung von Reichen, die Arme ausbeuten und alles tun, um die Kluft zwischen Besitzenden und Mittellosen zu vergrößern. Hier findet er harsche und vernichtende Worte. Für Jesus ist der Besitz von Geld im besten Sinne des Wortes „Vermögen“. Der Besitzende vermag mit seinen materiellen Gütern, Leben zu ermöglichen. Geld an sich ist moralisch neutral. Es kann dazu dienen, Freiräume zu schaffen und Gutes zu tun, oder aber zum Statussymbol zu werden und Macht zu symbolisieren. Jesus verteufelt das Geld nicht, aber er weiß um die Gefährdung, Geld nicht als Mittel zum Leben zu verwenden, sondern als Selbstzweck zu sehen. Dann eröffnet es nicht Freiräume, sondern versklavt. Dann wird Geld nicht mehr besessen, sondern es beginnt, vom Menschen Besitz zu nehmen, sein Denken und Handeln, sein Fühlen und sein Herz zu bestimmen. Diese Versuchung und Entwicklung kritisieren Jesus und die biblischen Schriften. Im Umgang mit Geld spiegelt sich wider, worin ich den Inhalt meines Lebens sehe: Wofür lohnt sich, Geld anzusammeln bzw. einzusetzen? Wird es so eingesetzt, dass es wirklich als Mittel zum Leben dient, also Bedürfnisse stillt und nicht nur mir dient, sondern auch anderen hilft? Oder geht es nur um Anhäufung von Geld, Macht und Vermögen. Die Grundfrage, an der sich jedes Urteil orientiert, ist letztlich: Besitze ich das Geld oder besitzt das Geld mein Herz und meine Seele? Gerade weil das letzte Hemd keine Taschen hat, soll die Großzügigkeit zum Kriterium des Umgangs mit Geld werden. Das Modell für eine freie Einstellung zum Besitz findet sich in der Gestalt des Zachäus, der einen Lernprozess durchmacht und spürt, wie viel mehr ihn die Begegnung mit Jesus im Gegensatz zu den Millionen von Goldmünzen, die er angehäuft hat, bereichert. Er hat am Ende keine Angst, mittellos zu werden, weil er das Mittel zum Leben gefunden hat: ein Leben mit Gott und für die anderen.
Und was ist mit dem jungen Mann im Evangelium? Nehmen wir einmal am, dass er enttäuscht über seine eigene Schwäche heimgeht, sich aber dennoch viele Gedanken macht, wie er so leben kann, dass er doch noch das ewige Leben gewinnt? Vielleicht heiratet er, gründet eine Familie, ist seiner Frau in Liebe und Treue verbunden und erzieht seine Kinder im Glauben an Gott und im Bewusstsein um ihre gesellschaftliche Verantwortung als begüterte Menschen. Er achtet weiterhin auf Gottes Gebote, unterstützt mit seinem Vermögen großzügig die Armen und engagiert sich in Initiativen, die das Leben von Menschen am Rande verbessern wollen. Ist das nicht auch ein Weg zum ewigen Leben? Aus den Worten Jesu hat er gelernt, dass er sich das Leben bei Gott mit seinem Verhalten nicht erkaufen kann. Das ist unmöglich. Aber er bekommt es von Gott geschenkt. Denn für Gott ist nichts unmöglich, nicht einmal, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr passt. Wer sich trotzt allem Können vor Gott als mittellos weiß, kann gute Hoffnung haben, dass ihm das Leben in Fülle geschenkt wird.
Für uns als Christen im 21. Jahrhundert, dessen Wohlergehen so sehr von globalen Finanzsystemen und Wirtschaftsverflechtungen dominiert wird, dass man den Eindruck haben kann, dass Geld die Welt regiert, ist es zunächst der Schritt einer inneren Versöhnung: Geld als solches und auch das Wirtschaften sind nicht schlecht. Es geht vielmehr um ethische Fragen und eine innere Prüfung: Wer besitzt wen, ich das Geld oder das Geld mich? Vermag mir mein Besitz zu helfen, so zu leben, wie ich es als sinnvoll und verantwortlich erkenne, also nicht nur meine eigenen Wünsche zu erfüllen, sondern auch zu helfen, wo ich mich in der Pflicht sehe? Oder bin ich geizig und strebe nach Geld um des Geldes willen? Ganz sicher darf auch nicht die Frage vergessen werden, woher mein Geld kommt und wie es arbeitet? Ist es gerecht verdient und sind meine Geldanlagen so ausgelegt, dass sie nicht zu Lasten von anderen Menschen und er Schöpfung gehen. Nach biblischer Vorstellung sind die Güter der Erde Gottes Geschenk an die gesamte Menschheit und die Welt das Lebenshaus für alle. Die Regel für das Zusammenleben ist nicht Mitleid, sondern Solidarität, also das Wissen, dass ich dem anderen Menschen verpflichtet bin, weil wir miteinander in dieser Welt leben. Wie der junge Mann sind wir nicht unrettbar verloren, aber wir müssen immer darauf achten, dass wir unser Herz nicht an den Besitz hängen, denn sonst bleiben wir stecken wie das Kamel im Nadelöhr. Amen.
Sven Johannsen, Pfr.
27. Sonntag B / Erntedank "Was mein Leben reicher macht"
Predigt 27. Sonntag im Jahreskreis B „Was mein Leben reicher macht“
Liebe Schwestern und Brüder
Seit vielen Jahren schließt die Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ auf ihrer letzten Seite mit der Rubrik „Was mein Leben reicher macht“. Leser können dort kurze Erzählungen von Erlebnissen aus ihrem Alltag posten, die dann einer großen Leserschaft einen ermutigenden Impuls geben soll, selbst auf die Momente zu achten, die das eigene Leben reicher machen.
In der letzten Ausgabe fand ich z.B. den Bericht einer Frau aus Schleswig-Holstein, die sich erinnert: „Am frühen Vormittag stehe ich am Empfang der Praxis, in der ich für eine Endoskopie angemeldet bin. Die freundliche Mitarbeiterin stellt mir noch ein paar Fragen zur Vorbereitung – und als letzte: Brauchen Sie eine Krankmeldung für den heutigen Tag – Ich bin vor zwei Wochen achtzig geworden.“
Und eine jüngere Frau aus Solingen erzählt: „Auf meinem morgendlichen Spaziergang grüße ich einen entfernten Nachbarn in seinem Garten. Er fragt, ob ich ein paar Nüsse haben wolle, und legt mir auch gleich drei Exemplare in die Hand: »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel!«, sagt er. Die trage ich nun stets in meiner Tasche bei mir – und fühle mich wie eine Prinzessin.“ (DIE ZEIT 42 /2024).
Aber nicht nur kleine humorige Anekdoten füllen die Spalte, manchmal sind es wirklich Begegnungen, die Hilfe für das Leben bereithalten. So dankt eine Frau mittleren Alters dafür, „(D)ass unser alter Pastor bei der schweren Beisetzung meiner Nichte, die mit 13 Jahren plötzlich verstarb, so tröstliche Worte für unsere Familie fand.“ (DIE ZEIT 32/2021)
„Was mein Leben reicher macht“ Es ist gut, dass Leser mit anderen Menschen teilen, wofür sie dankbar sind. Sie inspirieren mich und andere, selbst nachzudenken, was unser Leben reicher macht und wofür wir danken können. Es geht dabei nicht um einen Reichtum, den man auf dem Bankkonto sieht oder der sich in materiellen Werten ausdrücken kann. Es geht um Lebensfreude, Sinnfindung, Hoffnung und die Dankbarkeit für das, was mein Leben schön und lebenswert macht.
„Was mein Leben reicher macht?“
Wahrscheinlich werden viele von uns aus dem Stand Ereignisse aufzählen können, die diese Frage erschöpfend beantworten. Manchmal sind diese Erfahrungen mit Naturerlebnissen verbunden: Der herbstliche Spaziergang bei Sonnenschein mit Freunden; die Wanderung in den Bergen mit Besteigen eines Gipfels in den Alpen oder einer Höhe in der Rhön, die wunderbare Ausblicke öffnen; der Blick auf das spiegelnde Wasser eines Sees oder Meers, die Ruhe und Glanz ausstrahlen. Die Bilderspeicher unserer Handys und unsere Fotoalben sind voll von solchen Eindrücken. Zumeist aber sind es Begegnungen, Beziehungen und Gemeinschaftserlebnisse, die uns sagen lassen: „Das hat mein Leben bereichert.“
Ein älterer Leser erzählt: „Eine E-Mail von einem hundertjährigen Freund, der sich vor ein paar Monaten einen Tablet-Computer gekauft hat und neulich fragte: „Sag, bist du bei Whats-App?“ Wahrscheinlich würden wir anfügen: „Die WhatsApp meine Tochter, die in München studiert, und sich darauf freut, nächstes Wochenende heimzukommen“; „der Abend, an dem unser Sohn uns mitgeteilt hat, dass er und seine langjährige Freundin im nächsten Jahr heiraten werden“; „der Augenblick, in dem uns die Schwiegertochter erzählt, dass wir Großeltern werden.“ Viele große und kleine Begebenheiten mit anderen Menschen, v.a. unseren Familien, lassen uns glücklich werden und machen unser Leben reicher.
Wir feiern heute das Erntedankfest. Es will uns zeigen, aber auch nachdenken lassen, was das Leben reicher macht. Die Kirchen sind geschmückt mit der ganzen Vielfalt der Natur, mit allem, was in Gärten und auf Feldern, durch die Kräfte der Natur und die Mühe des Menschen gewachsen ist. Bunte Erntedankaltäre gibt es zu sehen und der Duft von Obst und Gemüse, Brot und Blumen liegt in der Luft. Es ist ein Fest für die Sinne und eines zum Besinnen, gerade auch für unsere technisierte Welt. Die Rhythmen der Natur, das Säen, Wachsen, Reifen und Ernten – das alles ist weiterhin bestimmend für unser Leben. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der Schöpfung und allen Geschöpfen ist kein »grünes Hobby« oder ein »Öko-Spleen«, sondern fordert die Weltgemeinschaft in vielfacher Weise. Die Folgen des Klimawandels stehen dabei wohl an erster Stelle, aber auch immer wieder neue Lebensmittelskandale oder die Verantwortung für jene, die ums nackte Überleben kämpfen müssen. Erntedank ist darum auch heute noch oder vielleicht sogar mehr denn je aktuell und wichtig. Und immer schon hat das Erntedankfest den Kreis weit gezogen: Der Mensch soll dankbar auf das schauen, was ihm gegeben ist, aber auch auf das, was ihm dadurch alles möglich ist, was er schaffen, leisten, anstoßen und bewegen kann. Erntedank will bewusst machen, was das Leben reicher macht.
„Was kostet es?“, das ist eine der häufigsten Fragen, die wir im Alltag stellen. Für vieles, was wir im Leben brauchen, müssen wir bezahlen, nicht nur für materielle Güter, auch für schöne Momente: Reisen, Feiern oder Kultur. Aber nicht diese materiellen Dinge machen uns wirklich reich, sondern die unbezahlbaren Erlebnisse, die wir auf einem gemeinsamen Ausflug mit den Kindern oder den Eltern geschenkt bekommen. Das Wertvollste in unserem Leben bekommen wir geschenkt, daran erinnert uns das heutige Erntedankfest. Reich werden wir, weil andere uns durch ihre Liebe, ihre Freundschaft, ihre Treue bereichern, nicht weil wir uns an ihnen bereichern, sie für uns ausnutzen. Gerade die Familie und die Partnerschaft, die in unserer heutigen Gesellschaft oft problematisiert werden angesichts der steigenden Zahlen von Trennungen und der wachsenden Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, sind immer noch die Orte, an denen Menschen das Kostbarste entdecken, das sie im Leben finden können, und spüren, was das Leben reich macht.
Davon spricht auch das heutige Evangelium, das ja Ehe und das Leben mit Kindern verbindet. Jesus sprengt das rein rechtliche und institutionelle Denken der Pharisäer im Blick auf die Ehe. Sie ist nicht einfach eine Zweckgemeinschaft. Menschen schließen keinen Vertrag zum beiderseitigen Nutzen. Sie nehmen einander vorbehaltlos an in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit. Sie schenken einander so Vertrauen, Zuversicht und Bestätigung. Ein Mensch sagt ohne Einschränkungen „Ja“ zu mir trotz aller meiner Unzulänglichkeiten, um die ich oft besser weiß als jeder andere. Kann mein Leben reicher werden?
Jenseits der theologischen Auseinandersetzungen im Blick auf das Scheitern einer Ehe und die damit verbundene Frage, ob ich nicht in einer zweiten Partnerschaft glücklich werden kann, was ich durchaus nachvollziehen kann, möchte ich mit Blick auf die Haltung Jesu heute dafür plädieren, die Liebe zwischen zwei Menschen, wie auch immer sie sich gestaltet, als ein Geschenk der Liebe Gottes zu deuten und nicht in der ständigen Sorge zu leben um das, was alles gehen kann. Partner wissen selbst um die Herausforderungen, die auf sie zukommen. Es gibt das kluge Wort: „Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf der Erde gelebt.“ Ich muss als Seelsorger nicht ständig mit gerunzelter Stirn alle Gefahren aufzählen, die auf zwei Menschen warten können, die sich aneinanderbinden, oder die Familien begleiten, in den Kinder aufwachsen, älter werden und lernen, ihren eigenen Weg zu gehen. Vielmehr ist es mein Anliegen, junge Menschen, aber auch lang verheiratete Ehepaare zu ermutigen, in ihrer Partnerschaft das Glück für ihr Leben zu suchen und zu finden. Darum ist Erntedank ein guter Anlass, einfach Dank zu sagen, dass Partner einander haben und ihnen von Gott her zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit gegeben wird, das miteinander glücklich zu sein und es in jeder Altersstufe immer neu zu werden.
Es ist m.E. auch eine Pflicht der Kirche, Dank zu sagen für das Geschenk von Ehe und Familie, in denen Kinder noch immer lernen, was für das Leben wirklich zählt und was sie stark macht für die Zukunft. Ehe und Familie sind heute vielgestaltig geworden, aber sie bleiben die beiden Quellen des Glücks und der Zukunft des Menschen.
Vielleicht nehmen Sie in diese Woche die Frage mit „Was macht mein Leben reicher?“ Schön wenn Ihnen dann als erstes die Menschen einfallen, die sie lieben und die für sie da sind. Sie spiegeln Gottes unbegrenzte Liebe zu uns Menschen wider. Amen.
(Sven Johannsen, Pfr.)
Predigt_27._Sonntag_B_Erntedan_Was_mein_Leben_reicher_macht.pdf
26. Sonntag B "Against all Gods - Die Glaubens-WG
Predigt 26. Sonntag B „Against all Gods – die Glaubens-WG“
Liebe Schwestern und Brüder
Ziehen ein Muslim, eine Katholikin, ein Jude, eine Hindu, ein Buddhist und eine Atheistin in eine gemeinsame WG – Nein, so beginnt kein Witz mit lustiger Pointe. Das ist in kurzen Worten der Rahmen für die Doku-Serie „Against all Gods“, die zurzeit Sonntagmorgens im ZDF ausgestrahlt wird.
Gloria, eine sorbische Katholikin und regelmäßige Kirchgängerin, Lars, gläubiger Jude, Jurastudent und Musiker, Omar, praktizierender Muslim und ausgebildeter Erzieher, Saghita, Buchhalterin und Hinduistin, begeisterte Tempeltänzerin, Dharmasara, eigentlich ohne Religion in Ostdeutschland geboren, aber nach einem Japan-aufenthalt Buddhist geworden, und schließlich Josimelonie, Influencerin, Transfrau und Atheistin, die Religionen für die Ursache der Konflikte und Kriege hält, ziehen für sechs Tage in eine Wohngemeinschaft in Berlin und verbringen eine Woche unter einem gemeinsamen Dach mit dem Ziel, nicht übereinander, sondern miteinander zu reden. Alle sind zwischen Mitte 20 und Anfang 30, also junge Menschen, die sich bewusst für ein Leben mit ihrer Religion bzw. Weltanschauung entschieden haben. Die Autorin der Reihe, Katharina Reinartz, erklärt die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: „Wir wollten, dass es Menschen sind, die ganz fest in ihrem Glauben stehen, sehr überzeugt sind von ihrem Glauben, aber dass man trotzdem den Eindruck und die Überzeugung bekommt, das sind trotzdem Menschen, die im Jahr 2024 leben. Es ist nicht schwarz und weiß, es gibt ganz viel Grau.“ (www.domradio.de v. 1.9.2024). Begonnen hatte das „Religions- und Toleranz-Experiment“ mit einem Abendessen. Die Protagonistinnen und Protagonisten wurden in ein Restaurant eingeladen zu einem festlichen Menü. Die Redakteure wollten sehen, ob überhaupt ein Gespräch zwischen ihren Gästen entsteht oder ob sie sich ignorieren und anschweigen. Am Ende wurde es zu einem Abend, „von dem man sich wünscht, dass er nicht endet“: lustig, interessant und weiterführend. So wagten die Macher den Schritt und luden zu dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft ein. Es wurde keine extravagante Variante von Big Brother, in der gläubige Menschen als Fanatiker in der Öffentlichkeit bloßgestellt werden sollten, sondern ein Sozialexperiment mit Tiefe, Dichte und gesellschaftlicher Relevanz. Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein. In der ersten Folge wurden die TeilnehmerInnen mit der Frage konfrontiert: „Ist mein Glaube der einzig richtige?“ Sie haben nicht einfach abgewiegelt, dass es egal ist, welchen Glauben man hat, sondern sich dazu bekannt, dass sie ihren Glauben als wertvoll und passend für sich sehen. Sie teilen die Grundhaltung: Für mich ist der Glaube richtig, ich bin in ihm verwurzelt, aber ich urteile nicht über die Vorstellung der anderen. Es gab auch ernste Auseinandersetzungen um manche Themen, die die Redakteure als Impuls in das Gespräch der Gruppe warfen. Manchmal war die Diskussion vorprogrammiert, z.B. bei der Diskussion zwischen der gläubigen Katholikin Gloria und der atheistischen Transfrau Josy um die Ehe für Alle. In einer der letzten Folgen drohte der Streit zwischen dem Muslim Omar und dem Juden Lars angesichts der Nahost-Konfliktes zu eskalieren. Dennoch, so die Macher, hat sich gezeigt, dass man sich an einen Tisch setzen und Themen ausdiskutieren kann. Katharina Reinartz zieht über die Glaubens-WG das Fazit: „Es zeigt auch, dass es irgendwie mehr gibt, was einen eint, als die Dinge, die einen trennen. Das war total schön zu sehen. Aber ja, es gab Streit und den sollte es auch geben, den durfte es geben. “
Was mit Blick auf die gewalttätigen Konflikte und brutalen Terrorakte, die oft im Namen der Religion ausgeübt werden, kaum vorstellbar scheint, beweisen sechs junge Menschen: Ein friedliches Zusammenleben der Religionen ist möglich. Die junge Katholikin Gloria beschreibt auf der Homepage des ZDF ihre Haltung so: „Als Katholikin vertrete ich eine konservative Glaubensrichtung. Ich glaube, das kann bei vielen erst mal auf Unverständnis treffen. … Ich hoffe, dass man sich verträgt, obwohl man unterschiedliche Glaubens-hintergründe hat – ich finde, das ist ein sehr wichtiges Zeichen in der heutigen Gesellschaft. Es geht nicht darum, dass alle gleich sein sollen, sondern dass Vielfalt ein gutes Miteinander hervorbringen kann."
„Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“, so bremst Jesus im heutigen Evangelium die übereifrigen Jüngerinnen und Jünger aus, die gegen einen Heiler vorgehen wollen, der im Namen Jesu Machttaten vollbringt, aber nicht zu ihrer Gruppe gehört. Vielleicht ist Ihnen eine Feinheit in der Erzählung aufgefallen: Die Jünger zeigen bei Jesus an, dass jemand in seinem Namen Dämonen austreibt und dass sie versucht haben, ihn daran zu hindern. Ihre Begründung dafür lautet aber, dass er „uns“ nicht nachfolgt und nicht, dass er „dir“ nicht nachfolgt. Es geht nicht darum, dass dieser Mensch nicht Jesus anerkennt, sondern dass er nicht der Jüngergruppe folgt und somit in ihre Kompetenz eingreift. Deshalb wollen die Jünger den Heiler stoppen. Die Jünger stehen wie in der ersten Lesung Josua für Abgrenzung, Jesus aber nimmt die Tradition des Moses auf und lehrt sie Weite. Er hat keine Angst vor Menschen, die nicht in seiner Nachfolge stehen, wenn sie sich für das Gute einsetzen und Menschen Gutes tun. Er öffnet seine Jünger für die Einsicht, dass das Ziel des Evangeliums nicht die Vergrößerung des Einflusses der Jüngergruppe, also der Kirche, sein kann, sondern das Anliegen, die Frage nach Gott in der Welt wachzuhalten. Dafür verbindet er sich mit Menschen, die auf den ersten Blick nicht viel mit ihm zu tun haben, aber sich einsetzen für die gleiche Idee. Gerade in unserer Zeit, in der Exklusivrechte an der Wahrheit sehr energisch von Einzelpersonen, gesellschaftlichen Gruppen und Parteien reklamiert werden, lädt die Haltung Jesu zu Gelassenheit und Weite ein. In einer Kirche, in der entgegengesetzte Strömungen einander gerne das Attribut „katholisch“ streitig machen, mahnt er zur Einsicht, dass es nicht um die Gruppe, Richtung oder Lehre geht, sondern um die heilende und befreiende Erfahrung Gottes im Leben von Menschen. Dafür hat das Evangelium immer schon Sympathisanten auch außerhalb des engeren Kreises der Christgläubigen gefunden. Einer der berühmtesten Jesusverehrer war Mahatma Gandhi, der in Jesus einen der größten Lehrer der Menschheit erkennen konnte und sein Evangelium der Seligpreisungen zur Orientierung für seinen Weg der Gewaltlosigkeit nahm, aber niemals ihn als Gott anerkannte. Schon Mose konnte erkennen, dass der Geist Gottes weht, wo er will, und nicht nur dort, wo wir ihn haben möchte. Jesus fordert daraus eine Haltung, die ich in der Glaubens-WG wiedererkenne, die das Gute in den anderen Menschen, ob religiös oder humanistisch geprägt, anerkennt und teilt, ohne dass ich meinen eigenen Glauben verleugnen muss.
Während der erste Abschnitt des heutigen Evangeliums diese Perspektive der Weite verkündet, scheint dagegen der zweite Abschnitt gegenteilig zu argumentieren. Er wirkt streng und rigid. Das Abschneiden von Körperteilen und Gewalt gegen sich selbst erscheinen uns als Praktiken fanatischer Strömungen und nicht als Ausdruck christlichen Verhaltens. Selbstverstümmelung um des Reiches Gottes willen wurde immer von der Kirche abgelehnt. Diese radikalen Aufforderungen Jesu werden nur verständlich von Jesu Sorge um „die Kleinen“ her, mit der er diesen zweiten Teil einleitet. „Die Kleinen“ sind die Menschen, die an ihn glauben und die ernst machen mit der Aufforderung vom letzten Sonntag „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ Jesus hat die Menschen im Blick, die ihm mit Ernsthaftigkeit nachfolgen wollen. Sie sind unantastbar. Niemand darf sie im Glauben verunsichern oder für sich vereinnahmen. Sie wollen der Weisung Jesu folgen. Niemand darf diese durch eigene Lehren verwässern oder radikalisieren. Weder durch Anpassung an den Zeitgeist noch durch übertriebene Strenge dürfen Lehrer und Leiter in der Kirche den Blick auf die wahre Absicht Jesu verstellen und so Menschen in ihrem Glauben erschüttern. Es geht Markus im Evangelium um den Frieden in der Gemeinde, der durch Egoismus gestört werden kann. Wo der Blick auf den Willen Jesu verstellt wird durch Parteiungen und Eigeninteressen leidet der Leib Christi, wie Paulus die Kirche beschreibt. Es geht in diesen radikalen Forderungen nicht um moralische Perfektion, sondern darum, dass die Einheit in der Gemeinde Jesu gewahrt bleibt. Wir sollen einander im Glauben und Vertrauen an Gott stärken und nicht erschüttern. Diese Aufgabe ist gleichsam die Innenperspektive der Glaubensstärke, die erst die Haltung der Weite, die Jesus im ersten Teil fordert, möglich macht.
Paulus sagt seiner Gemeinde in Korinth zu: „Wir sind ja nicht Herren über euren Glauben, sondern Helfer zu eurer Freude. Denn im Glauben seid ihr stark.“ Für eine Gemeinde ist diese Sicht eine Richtschnur: Wir haben dem anderen nicht unseren Glauben aufzuzwingen, sondern einander im Glauben stark zu machen durch unsere Gemeinschaft im Gottesdienst, durch Gespräche und ein einladendes Gemeindeleben, das viele Menschen einlädt und offen ist für die Bereicherung auch durch Menschen, die von außen kommen. Unter Gottes Dach haben viele Platz. Amen. Sven Johannsen, Pfarrer
25. Sonntag B Warum gibt es Krieg
Predigt 25. Sonntag B – 22.9.2024 „Warum gibt es Krieg“
Liebe Schwestern und Brüder
Muss ein Kind wissen, was eine Streubombe ist? Wie die Nato aufgebaut ist? Ob Soldatinnen und Soldaten auch Angst haben? Vielleicht spüren Sie wie ich eine innere Hemmschwelle bei der Frage, ob man mit Kindern über das Thema „Krieg“ reden soll? Ich bin als Pfarrer 25 Jahre an Grundschulen und KiTas tätig und natürlich waren „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ immer zentrale Themen im Unterricht. In der Regel aber standen nicht die Kriege und Konflikte im Mittelpunkt, sondern Geschichten über Toleranz, Geschwisterlichkeit, Versöhnung als Lösungswege im Vordergrund. Ein neues Vorlese- und Bilderbuch der renommierten Psychologin Elisabeth Raffauf (Wann ist endlich Frieden, Sauerländer 2023) für Grundschulkindern fokussiert sich v.a. auf die Themenfelder „Krieg“, „Flucht“, „Terror“, „Angst“. Das Kinderbuch wird von der Presse sehr gelobt und ist nur ein Beispiel für ein wachsendes Segment im Bereich Bilderbücher. Die Sprache ist sachlich und leicht verständlich, aber auch klar und beschönigt nicht. In einem Glossar nimmt die Autorin Worte auf, die Kinder im Augenblick in Gesprächen oder in den Medien aufschnappen, so dass „Sexuelle Orientierung“, „Drohne“, „Panzerhaubitze“ neben „Demokratie“, „Solidarität“ und „Grundgesetz“ stehen. Noch vor einigen Jahren hätten wir Begriffe wie „Amok“, „Streu-bombe“ oder „Bündnis“ allein dem Wortschatz von Erwachsenen Menschen zugeordnet, aber spätestens seit den Konflikten in Syrien, in der Ukraine und im Gaza-Streifen lassen sich die großen Konflikte vor Kindern nicht mehr verheimlichen. Sie verunsichern Kinder genauso wie Erwachsene. Vielleicht mussten Sie selbst auch schon versuchen, Ihren Kindern, Enkeln oder gar Urenkeln zu erklären, warum es in der Welt so viel Gewalt gibt und so viele Menschen aus ihren Heimatländern flüchten müssen, weil sie Opfer von Krieg und Terror wurden. Dann waren und sind Sie mit der Grundfrage konfrontiert, die der Autor des Jakobusbriefes heute aufwirft: „Woher kommen Kriege bei euch, woher Streitigkeiten?“
Auch in einer Gemeinde, die ganz vom Geist Jesu und der Seligpreisungen erfüllt sein sollte, gibt es Konflikte und Menschen sind konfrontiert mit Gewalt, Terror und Krieg, die sie verunsichern und verängstigen. Dem Apostel ist bewusst, dass keines seiner Gemeindemitglieder verantwortlich für einen Kriegsausbruch ist. In der frühen christlichen Gemeinde sammeln sich nicht große Staatsmänner. Dennoch konfrontiert er seine Leser und Zuhörer in der Suche nach einer Antwort mit ihren eigenen Schwächen: Es gibt Eifersucht und Streitsucht. Im Grunde sind Konflikte auf allen Ebenen auf diese beiden Übel zurück-zuführen, denn sie schaffen Unordnung und Feindschaft und schwächen Gerechtigkeit und Bescheidenheit, also die Eigenschaft, dem anderen zu gönnen, dass er Glück hat oder mehr besitzt als ich. Natürlich erscheinen uns diese Antworten etwas naiv. Weltpolitik, gerade im Nahen Osten, ist komplexer, aber letztlich sind es doch immer wieder die gleichen menschlichen Schwächen, die in einem undurchschaubaren Netz von nicht auflösbaren Knoten durchschimmern: Angst vor dem Fremden, der mein Wohlergehen bedroht, Eifersucht auf den Nachbarn, dem es scheinbar besser geht als mir, und der Wille, sein „Recht“ durchzusetzen und zu erreichen, was einem nach eigener Vorstellung zusteht, ggf. auch auf Kosten des Anderen, dem es dann schlechter geht. Die Versuchung, diesem Denken zu erliegen, macht auch vor dem gläubigen Menschen nicht halt. Daran erinnert die erste Lesung aus dem Buch der Weisheit. Auch die Frevler in der Lesung waren einmal gläubig und kennen den Willen des Herrn. Das Buch der Weisheit richtet sich an Juden in der Diaspora. Viele leben jetzt im Milieu einer anonymen Großstadt und haben ihre religiösen Wurzeln gekappt. Es zeigt sich, dass man auch ohne die Einschränkungen durch biblische Vorgaben glücklich werden kann, ja sogar erfolgreicher in wirtschaftlichen Dingen, wenn ich Skrupel hinter mir lasse und Grenzen überschreite, die die Gebote Gottes gesetzt haben. Der, der Gott überwunden hat, triumphiert offensichtlich über den „Treuen“, der sich an die Gebote hält und Rücksicht übt. Die Grundvoraussetzung ist für beide gleich: Die Güter der Welt sind begrenzt und das Leben ist endlich. Die Wege auf diese Erkenntnis zu reagieren, unterscheiden sich aber wesentlich. Ich kann aus der Begrenztheit der Welt und des Lebens schließen, dass ich das Beste für mich rausholen und mitnehmen muss, was mitzunehmen geht. Dann muss ich zwangsläufig auf Kosten der anderen Menschen leben, die sich wehren werden, so dass es zu Streit und Krieg kommt. Oder ich sehe die Begrenztheit in einem größeren Horizont, nämlich im Rahmen der Ewigkeit Gottes, die die Angst überwindet, zu kurz zu kommen. Bescheidenheit erwächst nicht aus der Angst vor Gottes Strafe, sondern ist Ausdruck von Weisheit, wie es die beiden Lesungen nahelegen. Bescheidenheit ist gelebte Hoffnung, die über das unausweichliche Ende hinausschreitet. Dem Jakobusbrief liegt die Überzeugung zugrunde, dass der richtige Glaube den richtigen Lebenswandel braucht. Der Mensch, der an die Auferstehung Jesu glaubt, kann nicht im Tod die letzte Station sehen, an der sich entscheidet, ob mein Leben erfolgreich war. Jakobus geht es um ein gutes und gelingendes Leben. Das aber gedeiht nur in Übereinstimmung mit der „Weisheit von oben“, also jenem inneren Wissen des Herzens, dass es ein Mehr gibt, als alle irdischen Überlegungen uns erkennen lassen. Es gibt Zeichen für das Leben in Fülle, das Gott uns bereithält, und wenn das Herz sie angemessen deutet und bedenkt, kommt es zu der Hoffnung, die das Leben, das Leid und den Mangel überschreitet. Eifersucht und Streit hängen wesentlich mit einer verkürzten Sicht unseres Lebens zusammen. Die Weisheit von oben, die Gelassenheit schenkt, öffnet für einen größeren Blick. Es geht nicht um Vertröstung, sondern um Versöhnung schon in diesem Leben, die dem Menschen die Bitterkeit aus dem Herzen nimmt und ihn zum Frieden fähig macht.
Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage: Soll man mit Kindern über Krieg reden? Ganz sicher darf man ihnen nicht Antworten auf Fragen aufzwingen, die sie nicht gestellt haben, aber man darf ihnen keine Antwort verweigern auf die Fragen, die sie haben. Ausflüchte oder Abwiegeln wie z.B. „Das verstehst du noch nicht“ helfen nicht. Kinder treffen in unseren Kitas und Schulen Geflüchtete, die Schreckliches erlebt haben. Sie spüren die Sorgen und Ängste ihrer Eltern. Sie ahnen auch, dass die Bedrohung für uns selbst real geworden ist. Kinder brauchen einen Raum für Ihre Eindrücke, Fragen und Ängste. Sie dürfen auch erleben, dass wir Erwachsenen Angst haben, aber sie merken schnell, wenn man sie nicht ernst nimmt oder sie täuscht. Die Psychologin Elisabeth Raffauf, deren Buch nicht beim Krieg stehen bleibt, sondern Wege aufzeigt, wie Frieden gelingen kann, schreibt im Nachwort: „Wenn Kinder etwas in Worte fassen können, macht es sie sicherer und stärker. Das gilt auch für schwierige, angstmachende Ereignisse.“
Für mich kommt noch eine zweite Perspektive hinzu, die unseren Glauben, die Weisheit von oben, betrifft. Der Theologe und Therapeut Peter Wendl schreibt in einem Beitrag für Christ in der Gegenwart: „Die Art und Weise, wie Erwachsene mit schwierigen Themen umgehen, hat Vorbildfunktion und gibt Kindern Orientierung. Angst, die nicht kommuniziert wird, macht hilflos und handlungsunfähig. Das Angst-machende zu verdrängen, reduziert langfristig keine Belastung, übrigens in keinem Lebensalter.“
Unser Reden und Verhalten zeigen, ob wir Panik oder Gelassenheit in uns tragen. Wir können auch im Gebet für Menschen in Kriegssituationen zeigen, ob wir Hoffnung haben oder nicht. Ich bin nicht sicher, ob Kinder wissen müssen, was Streubomben sind, aber wohl sollen sie merken, ob wir in dieser bedrohten Welt Menschen der Zuversicht sind. Kinder können aus unserem Gottvertrauen herauslesen, ob wir Menschen der Hoffnung sind oder ob wir schon alle Hoffnung verloren haben und nur noch um das Überleben kämpfen. Es ist die Weisheit von oben, nicht vorgetäuschte Zuversicht, wenn wir daran glauben, dass Frieden möglich ist und diese Hoffnung vorleben. Amen
Sven Johannsen, Pfr.
24. Sonntag B Geduld mit Gott
Predigt 24. Sonntag im Jahreskreis "Geduld mit Gott"
Liebe Schwestern und Brüder
Es gibt Menschen, mit denen muss man viel Geduld haben: Kinder, denen Eltern hundertmal erklären, wie man sich am Essenstisch verhält; Schülern, denen der Lehrer immer wieder versucht, die Geheimnisse der Mathematik oder der lateinischen Sprache zu erschließen; Lehrlinge, die sich schwertun mit Abläufen und Prozessen. Manche Menschen strapazieren unsere Geduld über die Maßen: nervige Nachbarn, die immer wieder die Grenzen der erträglichen Lautstärke überziehen; geschwätzige Mitmenschen, denen man eigentlich aus dem Weg gehen will, weil man sonst zum Opfer von langen Tratsch-Geschichten wird; Hypochondern, die uns mit ihren (eingebildeten) Krankheiten die Zeit stehlen. Wenn man nicht ständig kurz vor dem Explodieren stehen will, muss man mit den Menschen Geduld haben. Muss ich auch mit Gott Geduld haben?
Das klingt ungewöhnlich. Aber eben diesen Titel hat schon vor einigen Jahren der Priester und Religionswissenschaftler Thomas Halik einem Buch über die Geschichte des Zachäus gegeben: „Geduld mit Gott“ (Herder-Verlag Freiburg; 5. Auflage 2012). Er beginnt sein Buch provokant mit dem Eröffnungssatz: „Mit Atheisten stimme ich in vielen überein, in fast allem – außer ihrem Glauben, dass es Gott nicht gibt“ (Thomas Halik; Geduld mit Gott, Freiburg 2012; S. 9) Thomas Halik misstraut fundamentalistischen Strömungen im Christentum, die immer alle Fragen gelöst sehen wollen. Vielmehr muss er feststellen: „Mit Atheisten bestimmter Prägung kann ich die Wahrnehmung der Abwesenheit Gottes in der Welt nachvollziehen.“ Er schränkt dann aber ein: „Ich erachte ihre Deutung dieses Gefühls jedoch für übereilt – nämlich für einen Ausdruck von Ungeduld.“ Wenn es im Horizont des Glaubens um die großen Fragen des Lebens geht, v.a. um die Frage nach dem Leid, dann treffen wir in der Regel auf zwei konkurrierende Antworten. Die eine versucht Gott freizusprechen und die Schuld für das Leid beim Menschen zu suchen oder zu vertrösten auf eine bessere Welt. Die andere sieht im Leid einen Beweis, dass es einen guten und allmächtigen Gott nicht geben kann. Beide Wege versuchen letztlich, das Problem der Frage nach Gott angesichts des Dunkels und des Leids sofort zu lösen. Aber Gott ist kein Problem, das sich uns stellt und wir beseitigen müssen, sondern ein Geheimnis, in dem wir verweilen und das wir aushalten. Das ist die Perspektive eines reifen Glaubens. Weder ist die Leugnung Gottes ein Zeichen von besonderer Intelligenz, noch ist seine fanatische Rechtfertigung ein Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Beide offenbaren die Ungeduld, die dem Geheimnis des Lebens nicht gerecht wird. Thomas Halik schriebt „Das Schweigen Gottes und die beklemmende Gottesferne bedrängen oft auch mich… Ich kenne drei (tief miteinander verbundene) Arten von Geduld angesichts der Abwesenheit Gottes: es sind dies Glaube, Hoffnung und Liebe.“
Muss man mit Gott Geduld haben? Fragen wir heute den Petrus im Evangelium.
Er ist im Markus-Evangelium nie nur einfach eine historische Person, sondern immer ein Modell des Glaubens, der Beziehung zwischen Gott und dem Jünger / der Jüngerin Jesu. Er begibt sich heute auf eine Achterbahn seiner Gefühle und seines Verhältnisses zu Jesus. Wir erleben ihn als den glaubensstarken Sprecher der Kirche gegenüber ihrem Herrn und nur wenige Zeilen später als den Kontrahenten Jesu, der ihn anherrscht und von ihm scharf zurechtgewiesen wird. Wie konnte es zu diesem Stimmungsumschwung kommen? In der Ungeduld, von der Halik redet, finde ich die Antwort.
Er ist der treue Zeuge. Die Szene in Caesarea Philippi ist uns noch mehr vertraut aus der Schilderung des Matthäus, der dem Bekenntnis des Petrus „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ die Zusage Jesu folgen lässt: „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (vgl. Mt 16,18). Die Jünger haben viel mit Jesus erlebt. Der Weg um den See Genezareth war gefüllt von Heilungen, Wundern, Redeschlachten mit den stets unterlegenen Pharisäern und Schriftgelehrten und einer neuen Erfahrung von Gemeinschaft, so dass sie bereits den Anbruch des Reiches Gottes spüren konnten. Petrus fasst diese Überzeugung all derer, die Jesus folgen, zusammen und spricht für sie und uns das Bekenntnis: „Du bist der Gesalbte Gottes, der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Mit dir leben wir schon in einer neuen Wirklichkeit.“ Es gibt Phasen der Sicherheit im Glauben, in denen wir uns Gott ganz nahe fühlen: Augenblicke des Gebetes, stimmungsvolle Gottesdienste, Erfahrungen in der Natur, Glücksmomente in der Familie und in der Partnerschaft. Immer dann, wenn alles im Lot ist, wissen sich Menschen Gott sehr nahe, ahnen bereits etwas von seinem Himmel. Kein Wunder, dass Petrus sich nicht aus dem Reich Gottes vertreiben lassen will, das er schon betreten hat. Der Gedanke, dass alles zusammenbrechen könnte und das Böse neu siegen kann, ist unvorstellbar. Er hört aber nicht richtig hin. Das letzte Wort in der Leidensankündigung Jesu, das die Auferstehung als Ziel vorgibt, kommt bei ihm nicht an, weil die Vorhersage des Leidens und des Todes ihn aus der Bahn zu werfen drohen. Wie kann der, den er gerade als Sohn Gottes bekannt hat, den Weg des Leidens und der Ohnmacht gehen. Das ist in seiner Gottesvorstellung schon nicht nachvollziehbar, noch mehr aber fordert es ihn heraus in seinem Vertrauen in Jesus. Kein Mensch will, dass ein anderer Mensch leiden muss, v.a. nicht, wenn er uns in Liebe verbunden ist. Die erschreckte Reaktion des Petrus ist emotional nachvollziehbar. Aber sie geht noch weiter: Das Kreuz ist für ihn nicht der Weg des Messias. Zu sehr hängt er noch am Bild des starken Gottesmannes, der mit eiserner Faust dreinschlägt, die Römer rauswirft und in Israel aufräumt, indem er die Gerechtigkeit wiederherstellt. Petrus sieht diese Hoffnung als ein Nahziel. Der Weg nach Jerusalem muss für ihn automatisch zum letzten Zweikampf zwischen Gott und den Bösen führen, den Jesus für sich und so zum Wohl der Menschen entscheidet. Er hat keine Geduld. Aber genau die fordert Jesus als Zeichen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ein. Nur durch das Kreuz kann der Weg zum Ostermorgen führen. Ohne sich dem Leid zu stellen, kann das Leben in Fülle nicht Wirklichkeit werden. Das ist für den Kopf nachvollziehbar, aber dem Herzen fällt es schwer, das Leid als Größe akzeptieren zu müssen. Glaube ist nicht nur eine Sache des Kopfes, der die Inhalte systematisiert, sondern v.a. eine Herzenssache, weil dort die Brücke zwischen unserem Erleben und unserer Hoffnung geschlagen wird.
Ich kann in meinem Glauben lange sicher stehen, aber im nächsten Moment Gott als fern und verborgen erleben. Dann aber braucht es viel Geduld. Wir können Gott nicht durch Gebete und ein gutes Leben bestechen. Das Leid ist ein Problem, aber es ist in unserer Welt und in unserem Leben allgegenwärtig. Wir sind mit ihm konfrontiert im Blick auf das Weltgeschehen voller Ungerechtigkeit und Katastrophen, aber auch im persönlichen Umfeld und im eigenen Leben. Jeder von uns sieht in seinem engsten Familien- und Bekanntenkreis Leid, das Mensch heimgesucht hat und zu zerbrechen droht: Krankheiten, Krisen, Konflikte, v.a. in der Partnerschaft und in der Familie, Trennungen, wirtschaftliche Sorgen… Immer stellt sich die Frage nach dem Warum? Petrus würde gerne ein Nein zum Leid sprechen, aber das ist unrealistisch. Jesus will das Leid sicher auch nicht, aber er nimmt es bewusst an und gibt ihm so einen Sinn. Wir treffen Jesus später am Ölberg, dem Ort, an der er selbst existenziell mit der Frage nach dem Leid konfrontiert ist und mit Gott ringt: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Mt 26,39) Er kann Sinn finden, weil er weiß, dass sein Tod das Tor zur Auferstehung und zum Leben ist. Ohne diese Hoffnung wird Leid zur sinnlosen Qual. Petrus möchte das Leid vermeiden, aber das ist nicht möglich. Jesus will, dass wir im Leid eine Schule des Lebens sehen, die uns feinfühliger und hoffnungsvoller macht. Das Dunkle ist ein Teil des Lebens, den ich nicht ausblenden kann, aber das ich überwinden kann durch die helle Hoffnung auf die Fülle des Lebens. Die Geduld des Glaubens mit Gott ist die Liebe, die vertraut, dass Gott mir nichts Böses will, und die Hoffnung, die sicher ist, dass alles Finstere überwunden wird und wir zum Leben bestimmt sind. In einer Betrachtung zum heutigen Evangelium formuliert es Kardinal Christoph Schönborn treffend: “Wir müssen alles uns Mögliche tun, um Leid zu lindern. Ganz verhindern können wir es nicht. Wir können es aber mittragen. Das tut Gott selbst. Denn Jesus steht auf der Seite der Leidenden.“ (Hat Leiden einen Sinn? (erzdioezese-wien.at)
Ein gelungenes Modell geduldigen Glaubens kann ich im „Superstar der Heiligen“, im Heiligen Franziskus erkennen. Wir erinnern uns heute daran, dass er vor genau 800 Jahren um das Fest Kreuzerhöhung herum die Wundmale Jesu eingeprägt bekam. Er war zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank und von Schmerzen geplagt. Aber diese tiefe Erfahrung der Verbindung mit dem Gekreuzigten mündete für ihn in ein Lied der Hoffnung, den Sonnengesang, den er kurze Zeit später verfasste. Der kranke und gezeichnete Franziskus hebt an und lobt Gott mit allen Geschöpfen: „Laudato si, o mi Signore“ „Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen…“ Am Ende wird er sogar den letzten Schritt gehen und Gott preisen durch das Leid: „Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.“ Es ist ein Lob auf Gott, das einen langen Atem braucht. Amen (Sven Johannsen, Pfr.)
23. Sonntag B - Einführung
Predigt 23. Sonntag im Jahreskreis / Mariä Geburt
Einführung in der PG Würzburg Ost
Liebe Schwestern und Brüder
„Das fünfte Evangelium“, so hat schon vor vielen Jahrzehnten der Benediktinerpater und Archäologe Bargil Pixner treffend das Heilige Land beschrieben. Jeder, der einmal in Israel war, kann das nachvollziehen. Biblische Texte, aber auch kirchliche Feste bekommen eine ganz neue Verwurzelung, wenn zum Hören und Feiern die Erinnerung an die besuchten Stätten aufleuchten. Israelpilger können die Seligpreisungen nicht hören ohne sofort wieder an den wunderbaren Blick über die Hänge durch die Palmen- und Rosengärten, die liebevoll von italienischen Schwestern gepflegt werden, auf den silbern glitzernden See zu denken.
Es gibt Orte und Wege im Heiligen Land, die vergisst man nie. So verhält es sich auch mit dem heutigen Festtag Mariä Geburt. Er erinnert an den Weihetag einer Kirche in Jerusalem. Einer der klassischen Pilgerpfade führt von der Paternoster-Kirche auf dem Ölberg im Osten der Heiligen Stadt Jerusalem an den jüdischen Gräbern und der Kirche der Nationen vorbei hinab ins Tal Joschafat, dem Ort, der nach jüdischer Tradition einmal Schauplatz des jüngsten Gerichts sein wird, und steigt dann vom Mariengrab hinauf zum Löwentor in die Altstadt. Nur wenige Meter, nachdem man das Tor passiert hat, sieht man links den Zugang zum Tempelberg für Muslime und rechts eine lange Klostermauer, die seit über 150 Jahren französisches Staatsgebiet umfasst. Betritt man durch das kleine Tor das Areal im Inneren dann liegt vor dem Besucher nicht nur der Teich Betesda, der aus den Evangelien bekannt ist, vielmehr erhebt sich eine der schönsten, vielleicht die schönste Kirche des Heiligen Landes, die der Großmutter Jesu geweiht ist: die Annakirche. Sie ist das wohl am besten erhaltene Gotteshaus der Kreuzfahrerzeit, ein Glück, das auch dem Umstand zu verdanken ist, dass Saladin aus Achtung vor Maria und Anna die Kirche nicht zerstören ließ, sondern zur Moschee umwandelte, was sie dann auch gut 700 Jahre war. Nüchtern in der Dekoration ist es der elegante Raum mit seiner einzigartigen Akustik, der die Annakirche zu einem der schönsten und besinnlichsten Orten in der hektischen Jerusalemer Altstadt macht. Hier atmet jeder Stein Frieden. In der Kirche führt seitlich eine kleine Treppe in die Krypta, eigentlich ein Gewirr von Gängen und Grotten, die aus dem Felsen gehauen wurden. Dort lokalisiert die christliche Tradition seit langer Zeit den Ort der Geburt Mariens. Die Annakirche ist also nach Jerusalemer Tradition das Elternhaus der Gottesmutter. Ich weiß, dass das heutige Jerusalem nur wenig mit der Stadt zu tun hat, die Jesus am Palmsonntag betrat, aber ich finde den Gedanken faszinierend, dass er am Beginn der Heiligen Woche nicht nur in eine ihm als Galiläer fremde und feindlich gesinnte Hauptstadt kam, sondern nur wenige Schritte nach dem Einzug auf ein Haus getroffen sein muss, das ihn an seine Familie erinnerte. Wir finden in den vier Evangelien keinerlei Hinweise auf die Großeltern Jesu und die Geburt seiner Mutter. Es ist das sog. Protoevangelium des Jakobus, das uns von Anna und Joachim und ihrem Schicksal der langen Kinderlosigkeit erzählt. Wie schon im Fall der Erzeltern Abraham und Sara leiden beide unter dem nicht erfüllten Wunsch nach einem Kind, bis ein Engel ihnen ankündigt, dass sie Eltern eines besonderen Kindes werden. Die Annakirche soll gemäß einer Jahrhunderte alten Tradition der Ort der Geburt und der ersten Lebensjahre Mariens gewesen sein. Dann wäre Jesus noch vor der heutige via dolorosa beim Betreten der Heiligen Stadt also vor einem Haus gestanden, das ihn mit Menschen verbindet, die sein Leben prägte und an die er vielleicht gute Erinnerungen hatte. Wir wissen nicht, ob Jesus seine Großeltern überhaupt gekannt hat, aber erzählt wird man von ihnen haben. Vielleicht aber ging es ihm auch so wie manchem von uns: Bei den Großeltern war es immer am schönsten. Dort hat alles besser geschmeckt und man durfte viel mehr. Großeltern waren immer perfekt und in der Erinnerung die Menschen, die nicht so streng und ungerecht waren wie die Eltern. Sie erzählen von unserer Verwurzelung und unserer Herkunft. Sie stehen für das, was wir mit dem Begriff „Heimat“ bezeichnen. Heimat ist kein Ortsschild oder ein Haus aus Steinen, sondern ein Mosaik von Menschen, Erfahrungen und Erlebnissen, die uns bis ins hohe Alter prägen. Heimat ist kein Kampfmittel, das Populisten missbrauchen dürfen, um Menschen, die ihnen fremd erscheinen, auszugrenzen, sondern eine Prägung, die ein Mensch braucht, damit er in der Weite und Komplexität der Welt bestehen kann. Ich brauche Werte, Vorbilder, Beziehungen, Orte, an die ich mich zurückbinde, um neue Weg in meinem Leben zu betreten. Der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer hat in einem Gespräch mit der ZEIT die pointierte Beschreibung gefunden: „Heimat ist der Ort, an den die Seele gern zurückkehrt.“ (Die Zeit 29/2021)
Es geht um mehr als Häuser, Traditionen, Dialekte oder Vereine, es geht um die Wurzeln meiner Persönlichkeit, meines Selbst, wie ich geworden bin, wer ich bin. Daran erinnert uns die Kirche, die mit dem heutigen Festtag verbunden ist.
Im Laufe meines Studiums und meiner Tätigkeit als Pfarrer bin ich überschüttet worden mit Definitionsversuchen von dem, was Gemeinde ist. Historiker erklären, dass die Pfarrei nichts anderes war als eine Verwaltungseinheit. Das erinnert schon ein wenig an die genialen Umstrukturierungsversuche durch die diversen Diözesanleitungen in unserem Land. Pastoraltheologen reduzieren Gemeinden z.B. auf das Bild der „Berghütte“, gleichsam eine Art Tankstelle für die Seele, dich ich aber wieder hinter mir lasse. Ich hänge weiterhin an der Identifikation von „Gemeinde“ und „Heimat“. Gemeinde ist nicht in erster Linie das Pfarrbüro, in dem ich Dokumente und Bestätigungen bekomme, und sie ist nicht nur eine kurze Rast, damit das Herz zur Ruhe kommt in einer vorläufigen Erfahrung der Stille, sondern ein Ort und eine Gemeinschaft, die mich prägen will. Sie ist im besten Fall „der Ort, an den die Seele gern zurückkehrt.“ Das heißt für mich sie verbindet sich für den, der in ihr lebt und der sich auf sie einlässt, mit Erfahrungen und Begegnungen, die mich ein ganzes Leben lang prägen können, auch wenn ich mich weiterentwickle oder gar nicht mehr in meiner Heimatgemeinde lebe. Ich möchte diesen Gedanken von der Gemeinde als Heimat in drei Impulsen vertiefen, die sich mit dem heutigen Fest und den biblischen Lesungen verbinden.
- Gemeinde ist das Haus, in dem alle einen Platz haben.
In meiner Jugend und später auch noch in den ersten Jahren als Pfarrer war ein Lied von Peter Janssen sehr beliebt, dessen ständiges Spielen in Familien- und Jugendgottesdiensten wahrscheinlich viele meiner Generation so geschädigt hat, dass sie den Text noch immer auswendig mitsingen können. Im Kehrvers heißt es da: „Komm, bau ein Haus, das uns beschütz. Pflanz einen Baum, der Schatten wirft, und beschreibe den Himmel, der uns blüht“ Danach lädt der Komponist viele ein, in diesem Haus Gottes zu wohnen vom Kind bis zum alten Menschen. Es mag kitschig klingen, aber ich halte noch immer daran fest, dass so Gemeinde ist: Ein Haus, in dem alle Platz haben, ein Ort der Begegnung der Generationen, der Erfahrung von Unbeschwertheit und Gemeinschaft, die dem Leben Tiefe, aber auch Fröhlichkeit gibt. Wir verwalten nicht den Untergang, wir bauen an einem lebendigen Haus, in dem jeder seinen Platz finden darf. Ich wünsche mir, dass Eltern, Familien und Kinder Erfahrungen machen, die ihnen in allen Umbrüchen des Lebens das Gefühl geben, dass sie ernst- und angenommen werden. Taufeltern sind keine Kunden, Kommunionfamilien keine Störfaktoren und Jugendliche keine lustlosen Ausnutzer unserer Angebote. Die Senioren sind nicht die Alten, um die man sich nicht kümmern muss, weil sie ja eh kommen. Ich bin überzeugt, dass in einer lebendigen Gemeinde jede Lebensstufe etwas finden kann, dass sie beheimatet. Ganz bewusst stelle ich mich hinter unsere Kindertagesstätten, weil sie Orte der Gemeinde sind, an denen wir in Begegnung mit Menschen kommen, die mitunter gerade Familie geworden sind und froh sind, dass sie hier eine Atmosphäre haben, in der ihre Kinder wertvolle Persönlichkeiten werden können. In der Gemeinschaft der Generationen können Jugendliche Werte für sich finden, die ihrem Leben Orientierung und Richtung geben aus dem Geist Jesu. Menschen in der Lebensmitte dürfen hier erfahren, dass sie nicht nur das sind, was sie leisten und schaffen. Und Senioren haben ihren Platz, ohne sie rechtfertigen zu müssen, dass sie da sind. Eine Gemeinde lebt davon, dass jeder sein darf.
- In einer Gemeinde werden alle gesehen, v.a. auch die, die sonst übersehen werden
Im heutigen Evangelium hören wir wieder von einem beeindruckenden Heilungswunder Jesu. Was schnell übersehen wird, scheint mir aber sehr wichtig: Freunde bringen den Gehörlosen zu Jesus. Sie sehen seine Not und teilen sein Leid. Sie werden nicht einfach mitleidig und bedauern den armen Menschen, sondern entwickeln für ihn eine Perspektive. Sie bitten Jesus für ihn. Mit ihrer Aktion wird ein Mensch in den Mittelpunkt gerückt und zum Zentrum des Interesses, der in der Regel eine Randstellung einnimmt. Der Gehörlose wird geheilt, aber seine Heilung bewirkt auch Heilendes für die anderen. Sie reden in neuer Weise: „Er hat alles gut gemacht“. Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen, die oft im Leben einer Leistungsgesellschaft untergehen, durchwirken das Miteinander unter denen, die an Jesus glauben. Für den anderen Menschen beten und ihn vor Gott tragen, das ist Liturgie. Wir zelebrieren nicht einen Ritus, sondern feiern die Begegnung mit dem Gott des Lebens, in die wir auch die Menschen mithineinnehmen wollen, die uns am Herzen liegen. Achtsamkeit für die Menschen in Not, aber auch Offenheit, uns selbst verwandeln zu lassen, dass wir staunen und reden können von dem, was uns Hoffnung macht. Im Blick auf den Propheten Jesaja scheint mir das eine große Aufgabe für eine christliche Gemeinde: Künder der Hoffnung sein in einer Welt, in der viele Unheilspropheten mit markigen Sprüchen sich in Szene setzen. Wir reden nicht schön, aber wir reden von der Perspektive der Hoffnung auf eine Zukunft, die noch nicht verloren ist. Wir sind nicht die drei Affen, die nicht sehen, nicht hören und nicht reden. Wir sehen die Wirklichkeit der Welt, wir hören auf das Seufzen derer, die in Not sind, und wir haben den Mut von Gott zu sprechen, der Leben will für alle.
- Eine Gemeinde gibt mir die Sicherheit, dass es gut ist, dass ich da bin,
Kehren wir noch einmal zum heutigen Fest zurück. Der Hamburger Pfarrer Felix Evers deutet es mit einem Lied, das Taufeltern und Erzieherinnen im Kindergarten gut kennen und in dem es heißt: „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur. Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu. Du bist du!“ Welchen Wert hat das Leben? Der beunruhigende Gedanke, dass ich mich für mein Dasein rechtfertigen muss durch Leistung, lastet auf immer mehr Menschen. Die Welt ist komplex geworden und viele drohen den Halt und die Orientierung zu verlieren. Sich an anderen zu messen und doch immer wieder zu erleben, dass ich nicht perfekt bin oder gar nicht den großen Erwartungen entsprechen kann, die an mich gestellt werden, stürzt Menschen in Niedergeschlagenheit und Erschöpfung. Gemeinde ist ein Gegen-Ort. Hier bin ich nicht zuerst derjenige, der dies oder das kann, den man für jene Aufgabe einsetzen kann, sondern hier bin ich Person. Person führen wir zurück auf den lateinischen Begriff „personare“, „durchtönen“. Ich bin also der Resonanzraum Gottes, durch den sein Wort tönen kann, gleichsam eine Botschaft Gottes an alle Menschen. Diese Botschaft kennen wir vom Jordanstrand her, in dem Moment, in dem sich bei der Taufe Jesu der Himmel öffnete und die Stimme Gottes sprach: „Du bist mein geliebtes Kind, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Einen Ort zu gestalten, der nicht geprägt ist von Überheblichkeit, aber vom Selbstbewusstsein, dass ich als Kind Gottes einen festen Platz in dieser Welt und eine Heimat im Himmel habe, heißt für mich, an einer lebendigen Gemeinde zu bauen.
Liebe Schwestern und Brüder
„Ein feste Burg ist unser Gott, ein starke Wehr und Waffen“, singen unsere evangelischen Mitchristen. Als Albert Boßlet diese Kirche und das Areal Mitte der dreißiger Jahren plante, scheint er wohl diesen Gedanken im Hinterkopf gehabt zu haben. In einem Umfeld, in dem die christliche Botschaft angegriffen wurde und Fremdenhass zur Staatsideologie wurden, hat er ein Bollwerk des Glaubens geschaffen. Heute noch merkt man diese Intention, wenn man den Pfarrhof betritt. Es wirkt auf manchen Besucher wie ein Burganlage.
Mit Blick auf diese Positionierung in der Burg Gottes haben wir letztlich zwei Möglichkeiten.
Wir können uns in unseren Gemeinden abriegeln vor der Welt und versuchen, eine Art Parallelwirklichkeit aufzubauen. Dann werden wir alle Entwicklungen nicht nur kritisch beobachten, sondern auch als schlecht verurteilen. Das ist für mich der Weg zur Sekte. Denn wir können unsere Gläubigen nicht einsperren in der Hoffnung, dass uns keiner verloren geht. Oder aber wir öffnen die Tore unserer Gemeinden, der Burg Gottes, um Menschen in ihrer Suche nach Gott, in ihrer Bedrängnis und ihrer Sehnsucht nach einem Obdach für die Seele Heimat zu bieten. Dann wird vielleicht nicht immer alles perfekt sein. Dann werden wir akzeptieren müssen, dass Menschen unterschiedliche Einstellungen zur Art haben, wie ihr Leben gelingt, die nicht immer den kirchlichen Gesetzen und Moralvorstellungen entsprechen, aber dann erfüllen wir den Auftrag Jesu an den Gehörlosen und an uns: „Effata! Tue dich auch!“ Und nur dann haben wir auch die Möglichkeit einmal festzustellen, dass alles gut geworden ist. Wir wollen nicht in Angst und Furcht diese Welt überstehen, sondern uns öffnen und zur Heimat werden für Menschen, die mit uns auf das Wort Gottes hören und zu leben versuchen.“ Amen
Sven Johannsen, Pfarrer